Von Natur aus kreativ
SS damit beschäftigt war, einen alten Mann in einem Bach zu ertränken, da er Jude war. Mein Vater wollte dies sofort unterbinden, woraufhin ihn ein SS-Mann mit gezogener Pistole bedrohte. Da machte ihn mein Vater darauf aufmerksam, dass hinter ihm ein gesamtes Bataillon stehe und der SS-Mann keine Sekunde überleben würde, sollte er schießen. Mein Vater war sich sehr sicher, dass die Soldaten hinter ihm, dem Frontoffizier, standen, und nicht hinter dem SS-Mann.
Am nächsten Tag wurde er aus Russland ausgeflogen, und das in einer Zeit, in der Flugzeuge und Kerosin bei Gott rar waren. In Berlin stellte man ihn vor ein Gericht und verurteilte ihn zum Tode. Seine Truppe machte General Hasso von Manteuffel auf diese verzweifelte Lage aufmerksam, dieser intervenierte bei Adolf Hitler, und so gelang es ihm, die Erschießung zu verhindern, und zwar ausschließlich mit der Begründung, dass man dann in diesem Frontabschnitt mit Unruhen und Schwächung der eigenen Reihen rechnen müsste. Dies sei dadurch bedingt, dass die Truppe nur noch ihren Frontkommandeuren gehorche, und nicht mehr Berlin.
Als der Krieg vorbei war, nahm mein Vater ein Medizinstudium an der Münchner Universität auf. Doch bereits wenige Wochen danach wurde er von der Uni relegiert, und zwar mit der Begründung, dass alle Generalstabsoffiziere Kriegsverbrecher seien. Dies löste bei ihm nachvollziehbarerweise eine Bitterkeit aus, die in dieser Angelegenheit bis zu seinem Tode anhielt. Die Geschichte ist trotzdem gut ausgegangen, mein Vater konnte seinen Berufswunsch weiterverfolgen und ist einer der großartigsten Ärzte geworden, die ich in meinem jetzt 40-jährigen Berufsleben je kennengelernt habe.“
Die Tradition des Arztberufes, das alte Haus des ersten Baders, bis heute im Familienbesitz, die alten, noch immer lebendigen Geschichten, die Weitergabe des Selbstanspruches, mutig zu sein – dies alles kann man mit dem Begriff „Kontinuität“ zusammenfassen. Auch Kontinuität – und nicht nur Kreativität – ist also eine wichtige Voraussetzung für ein erfolgreiches Leben. Wäre man immer nur kreativ, müssten wir das Rad andauernd neu erfinden. Deswegen gilt es, auch die Kontinuität zu achten. Die Weiterentwicklung etwa vom Bader bis zum heutigen hochspezialisierten Chirurgen ist ein solches Beispiel für die notwendige Verflechtung von Kontinuität und Kreativität. Oder die Weiterentwicklung des ersten Universalröntgenapparates bis zu den modernen bildgebenden Verfahren in der Medizin.
Kontinuität als Voraussetzung von Kreativität zu betrachten, ist in der westlichen Welt sicher eher unüblich. Ganz anders ist es aber in anderen Kulturen, insbesondere in asiatischen Ländern. Dies zeigen nun Studenten der Kognitionspsychologie von der Peking University und die chinesischen Professorin Yan Bao, eine nach unserem Verständnis sehr kreative Wissenschaftlerin, die von sich behauptet: „I’m not a creative person.“ Anschließend kommt Abdulla Al Karam zu Wort, der das Bildungssystem in Dubai entwickelt und sich dabei stets von Neuem fragen muss, wie sich Tradition und Moderne in Einklang bringen lassen.
China: Man soll nicht der Erste sein, sondern der schnellste Zweite
Ein Gespräch mit Yan Bao und ihren Studenten
Acht Uhr morgens an der Peking University. Psychologieprofessorin Yan Bao hat mich, Ernst Pöppel, als Gast geladen, um eine Vorlesung über Kreativität zu halten, auf Englisch, denn Chinesisch kann ich nicht. Als Gegenleistung bitte ich die Studenten, mit mir zu teilen, was ihre Vorstellung von Kreativität ist. Alle sprechen ausgezeichnet Englisch; das Durchschnittsalter liegt bei 20 Jahren. Von den zehn Millionen Schülern, die jedes Jahr in China ihr Abschlussexamen machen, wollen alle an die Peking University, die beste Universität des Landes, doch nur einer von zehntausend schafft es. Zhiyuan Wang, der Physik studiert, sagt: „Es ist das Paradies.“ Das bezieht sich nicht nur auf die akademische Umgebung, sondern auch auf den Campus der Universität, weltweit einer der schönsten von denen, die ich kenne: ein Teil des alten Sommerpalasts mit einem See in der Mitte.
Pöppel: Zhiyuan, was fällt dir zum Thema Kreativität ein?
Zhiyuan Wang: Es macht keinen Sinn, nur von Kreativität zu sprechen, ohne von Wissen zu sprechen. Wissen und Kreativität gehören zusammen. Und wenn man einen kreativen Einfall hatte, dann ist es notwendig, nach logischen Regeln zu prüfen, ob der Einfall überhaupt richtig war. Ohne
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