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Von Natur aus kreativ

Von Natur aus kreativ

Titel: Von Natur aus kreativ Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Poeppel , Beatrice Wagner
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oder aus der anderen Perspektive, wobei jedes Mal der Gegenpol die Bedingung dafür ist, überhaupt eine Position einnehmen zu können. Komplementär sind selbstreferenzielle Vorgänge und weltreferenzielle Vorgänge; wir sind immer auf uns selbst, aber wir sind immer auch auf die Welt um uns bezogen. Komplementär sind Autonomie oder Selbstbestimmung und Eingebundensein in einen sozialen Kontext; wir sind nicht nur für uns und wir sind nicht nur für andere. Komplementär sind Wissen und Unwissen; wenn ich weiß, dann weiß ich auch, dass ich nicht weiß, und wenn ich nicht weiß, dann weiß ich auch, dass ich weiß.
    Alles geistige Geschehen aus nur einem Prinzip erklären zu wollen, scheint unmöglich zu sein. Hier öffnet sich ein neuer Rahmen, besonders kreativ in der Hirnforschung tätig zu werden. In unserem Bedürfnis, Dinge zu erklären, unterliegen wir dem Wahn, immer nach nur einer Ursache zu suchen. Alle Menschen scheinen an der Krankheit der „Monokausalitis“ zu leiden oder sind zumindest in unserem Kulturkreis in dieser Richtung geprägt, denn man kann den Eindruck gewinnen, dass insbesondere asiatische Kulturen offener sind für die Multikausalität allen Geschehens. Mit der Komplementarität als kreativem Prinzip ist eine besondere Weise der Multikausalität angesprochen, dass nämlich jeweils zwei oder auch mehrere Elemente zusammenkommen müssen, die sich selbst aus ihrer Bezogenheit auf ihr anderes bestimmen. Diese Verflechtungen im Einzelnen zu entflechten, dies verlangt wissenschaftlicheKreativität. Dazu muss man aber bereit sein, die Perspektive der Komplementarität als generatives Prinzip zu akzeptieren. Doch wäre das wirklich etwas Neues? Immer wieder ist man mit der Vergangenheit konfrontiert, mit der biologischen und der kulturellen. Auf Heraklit wurde schon hingewiesen, und auf Aristoteles muss man hinweisen: Er unterscheidet verschiedene Arten von Ursachen, zum Beispiel dass alles, was existiert, eine materiale Basis hat (causa materialis) und dass es irgendwie gestaltet ist (causa formalis), dass man also ohne die notwendige Komplementarität von Was und Wie nichts erkennen könnte.

Teil 4
Wissenschaftliche Kreativität in Gedichten
Warum gibt es überhaupt Gedichte?
    Ein Patient, der bei einem Unfall eine schwere Hirnverletzung erlitten hatte, sagte einmal, dass seine Gedanken seine Sprache nicht finden würden. Er wisse genau, was er sagen wolle, könne es aber nicht mehr zum Ausdruck bringen. In seiner inneren Sprache sei noch alles verfügbar, doch könne sein Denken nicht mehr an gesprochene Wörter oder Sätze angekoppelt werden. Diese innere Sprache wird auch als „Mentalesisch“ bezeichnet, und wenn man dem Patienten Glauben schenken darf, so existiert es ohne die „Sprechsprache“. Doch ist das nicht bei jedem so? Sprechen wir nicht immerzu mit uns selbst, ohne dass wir uns äußern? Und machen wir dabei nicht auch die Erfahrung, dass das eigene Mentalesisch sehr viel richtiger ist, dem inneren Zustand sehr viel mehr entspricht, als das, was man dann tatsächlich in hörbarer Sprache sagt? Zwar stimmt auch, was Heinrich von Kleist geschrieben hat, dass die Gedanken sich erst beim Sprechen formen können, doch dies ist nicht immer so, sondern eher selten der Fall. Dass diese innere Sprache sehr viel reicher ist oder zumindest so erscheint, das kann wohl jeder bestätigen, der gelegentlich Vorträge oder Vorlesungen halten muss oder der seine Gedanken schriftlich zuformulieren hat. Die in Gedanken vorformulierten Sätze für einen schriftlichen Text mögen klar und deutlich sein oder zumindest so erscheinen, und man mag recht zufrieden mit sich sein. Doch dann kommt die Wirklichkeit, und für das, was man aufschreiben möchte, finden sich nicht mehr die richtigen Worte, und mit einem Mal ist es im Gedankengewühl nicht mehr auffindbar. Es gibt wohl kaum jemanden, der nur noch aus seinem Gehirn abschreiben muss, was schon vorgedacht wurde. Das gilt für den Wissenschaftler, das gilt für den Dichter und das gilt für jeden, der seine Gedanken zu Papier bringen muss. Eugen Roth hat diese missliche Situation in seinem Gedicht „Arbeiter der Stirn“ eingefangen:
    Ein Mensch sitzt kummervoll und stier
    vor einem weißen Blatt Papier.
    Jedoch vergeblich ist das Sitzen –
    auch wiederholtes Bleistiftspitzen
    schärft statt des Geistes nur den Stift.
    Selbst der Zigarre bittres Gift,
    Kaffee gar, kannenvoll geschlürft,
    den Geist nicht aus den Tiefen schürft,
    darinnen er,

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