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Von Natur aus kreativ

Von Natur aus kreativ

Titel: Von Natur aus kreativ Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Poeppel , Beatrice Wagner
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eben nicht nur darum, jeweils nur einen bestimmten, klar abgegrenzten psychischen Sachverhalt gleichsam in den Griff zu bekommen. Man hat es immer gleich mit allem, mit dem gesamten Wirkungsgefüge des psychischen Repertoires zu tun.
    Der Befreiungsversuch aus der Versklavung des Bewusstseins wird außerdem durch einen Umstand erschwert, der durch unsere persönliche Biografie bestimmt ist. Wir leben eigentlich zwei verschiedene Leben, nämlich eines in den frühen Phasen unserer Biografie, die etwa bis zur Pubertät reicht, und eines danach. Wir treten in die Welt hinein mit einer Vielzahl genetischer Programme, die uns Erfahrungen ermöglichen. Dann durchläuft das gesamte Repertoire des Psychischen in den frühen Phasen des Lebens einen Bestätigungsprozess. Nur das, was bestätigt wird, kann zur psychischen Wirklichkeit werden; was nicht bestätigt wird, geht verloren oder lässt sich später nur mühsam wieder erwerben. Wer mit „verfaulter Milch“ aufwächst, mit Käse, wird diesen später mögen; für andere ist er eben verfaulte Milch. Wer bis zu zehn Jahren keine Fremdsprache gelernt hat, wird diese nie akzentfrei sprechen. Mit diesen Prägungsprozessen wird auch eine persönliche Wirklichkeit aufgebaut, die eine Einbettung in den kulturellen Rahmen ermöglicht. Die Matrix des Gehirns wird als Struktur durch die Festlegungen überhaupt erst bestimmt. Kultur wird zur Struktur des Gehirns. In unserer neuronalen Informationsverarbeitung sind wir auch kulturell versklavt.
    Die Kenntnis über die Prägung des menschlichen Gehirns und die Tatsache, dass kulturelle Randbedingungen zur persönlichen Wirklichkeit werden, bestimmen auch den Rahmen für interkulturelle Kommunikation. Wenn man weiß, dass man in seiner Persönlichkeitsbildung „ausgeliefert“ ist, nämlich zum einen den genetischen Programmen von Möglichkeiten und zum anderen deren Bestätigung oder Nichtbestätigung in einem kulturellen Rahmen, dann kann man respektvoll mit anderen umgehen. Denn jeder Mensch hat einen solchen Bestätigungsprozess durchlaufen. Kulturelle Unterschiede gehören somit bereits zu unserem evolutionären Programm.

Komplementarität als kreatives Prinzip
    Dies führt zum Konzept der Komplementarität. Die Idee der Komplementarität als generatives oder kreatives Prinzip ist nichts Neues, sondern sie wurde schon zu Beginn unserer Geistesgeschichte entdeckt. Es war der griechische Philosoph Heraklit, der vor etwa zweieinhalbtausend Jahren zuerst über Komplementarität als generatives und nicht als deskriptives Prinzip nachdachte. Heraklit hatte die Idee, dass alles eins sei, dass Gegensätze zusammenfallen: Das eine ist nie ohne das andere, wie Leben und Tod, Wachen und Schlafen, Entstehen und Vergehen, Alt und Jung, Männlich und Weiblich, Gut und Böse, oder sogar Lust und Schmerz. Die Welt der Gegensätze wird harmonisch zusammengebunden, da sich die Pole, die sich entgegenzustehen scheinen, gegenseitig bedingen. Und es sind Komplementaritäten, die unser Erleben und Verhalten erst möglich machen, die das erzeugen, was unser geistiges Leben bestimmt. Komplementarität, das Zusammenfügen des Verschiedenen, ist Grundlage von Kreativität.
    Komplementär sind der Rahmen und das, was im Rahmen erscheint; was immer wir im Bewusstsein haben, ist in einen Rahmen gestellt; weder gibt eseinen leeren Rahmen noch gibt es ungerahmte Inhalte des mentalen Geschehens. Komplementär sind das explizite und das bildliche Wissen; wir machen uns Bilder von Worten und Worte über Bilder. Komplementär sind mentale Kategorien wie Wahrnehmungen, Gedanken, Gefühle oder Erinnerungen und neuronale Aktivitäten, die es als Informationsmüll zu unterdrücken gilt; mentale Kategorien entstehen nicht aus dem Nichts, sondern werden aus neuronalen Aktivitäten herausgefiltert. Komplementär sind Inhalte des Erlebens und jene logistischen Funktionen des Gehirns, die Inhalte erst ermöglichen (das Was und das Wie). Komplementär beim Sehen sind das Was und das Wo; etwas ist immer irgendwo und irgendwo ist immer etwas. Komplementär sind unmittelbares Erleben und die Reflexion darüber, was man erlebt. Komplementär sind identitätserhaltende und identitätsablösende Prozesse des Gehirns; für eine gewisse Zeit bleibt ein Gedanke oder eine Wahrnehmung mit sich identisch, doch nicht für immer; Stationarität und Dynamik bedingen sich gegenseitig. Komplementär sind egozentrische und allozentrische Positionen; man betrachtet etwas aus der eigenen

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