Von Natur aus kreativ
noch sind wir nur von unserer gegenwärtigen Gefühlsladung bestimmt. Eine solche konzeptionelle Trennung verbietet allein schon die Architektur unseres Gehirns, in dem es keine getrennten Schachteln für Rationalität und Emotionalität gibt.
Wenn es erstens aber so ist, dass es nicht nur das rationale Wissenssystem gibt, sondern dass es auch implizites oder intuitives Wissen gibt, das sich hinter Worten versteckt, und wenn es zweitens ein bildliches Wissenssystem gibt, und wenn drittens gilt, dass diese Wissenssysteme in unserem Gehirn miteinander vernetzt sind, da dort alles miteinander vernetzt ist, dann folgt daraus, dass unsere Sprache nicht immer klar und deutlich sein kann. Sie drückt nie nur das aus, was in ihr explizit gesagt wird, stets fließen implizites Wissen und bildliche Vorstellungen mit ein, und das entzieht sich der willentlichen Kontrolle. Man weiß also gar nicht ganz genau, was man alles sagt, und man kann es auch nicht wissen, weil die Struktur unseres Gehirns das nicht zulässt.
Diese innere Verbindung der Wissenssysteme gilt natürlich auch für das Gedicht. Es kann gar nicht ganz verständlich sein, es muss sogar in einem gewissen Maße unverständlich bleiben. Für den Leser (im Übrigen auch für den Dichter) stellt sich also die Frage, was noch alles in einem Gedicht verborgen sein mag, an das der Dichter gar nicht gedacht hat und das man als Leser oder Vortragender herausschälen oder kreativ missverstehen könnte. Und was kann man in Gedichten sonst noch finden, wenn man einmal eine naturwissenschaftliche Perspektive einnimmt? Oder gibt es gar Gedichte, die naturwissenschaftliche Sachverhalte klarer und überzeugender zum Ausdruck bringen als die Fachsprache des Forschers? Um sich der Sache zu nähern, seien zunächsteinige Gedichte zusammengestellt, in denen sich Dichter mit der Sprache selber befassen, in denen also das Werkzeug, mit dem der Gegenstand hergestellt wurde, im Gegenstand selbst einer Analyse unterzogen wird.
Dichterische Spiele mit linguistischen Kompetenzen
Um sprechen zu können, stellt unser Gehirn mehrere Kompetenzen bereit, die uns von Natur aus mitgegeben sind, also zu unserem genetischen Repertoire gehören. Diese Kompetenzen, anthropologische Universalien, entfalten sich in jedem kulturellen Kontext in eigener Weise. Es ist bemerkenswert, dass für diese verschiedenen linguistischen Kompetenzen jeweils auch Beispiele in der Welt der Gedichte zu finden sind, obwohl Dichter typischerweise kein linguistisches Studium absolviert haben.
Um kommunizieren zu können, benötigen wir einen Wortvorrat, die lexikalische Kompetenz. Auf der Basis von Wörtern können wir grammatikalisch richtige Sätze bilden. Diese werden möglich durch syntaktische Kompetenz. Einen syntaktisch oder grammatisch korrekten Satz zu sagen, heißt aber noch nicht, dass er sinnvoll ist; hinzukommen muss die semantische Kompetenz, die dem Satz Bedeutung verleiht, wobei hierbei der jeweilige Kontext oder soziale Rahmen wichtig ist. Um sprechen zu können, produziert unser Sprechapparat Sprachlaute, also Konsonanten und Vokale, die in allen Sprachen deutlich von anderen Geräuschen zu unterscheiden sind. Diese sprachlautliche oder phonetische und zusätzlich die prosodische Kompetenz machen es möglich, dass sich Gefühle durch das Intonationsmuster der Sprache zum Ausdruck bringen lassen, und davon leben natürlich Gedichte.
Aber damit noch nicht genug: Wie man spricht, hängt immer auch von der gegebenen Situation ab, auf die man sich mithilfe der pragmatischen Kompetenz einstellt; man spricht mit seinem Geschäftspartner anders als mit seiner Geliebten – oder sollte es zumindest tun. Des Weiteren: Wenn man mit jemandem kommuniziert, dann setzt man stillschweigend voraus, dass der Bezug auf das Gemeinte jeweils gleich bleibt; der Gedanke bleibt derselbe Gedanke, das Gesehene oder Gehörte bewahrt seine Identität; dass dies keine Selbstverständlichkeit ist, das beobachtet man bei manchen Patienten mit Denkstörungen.
Und dann gibt es noch die temporale Kompetenz; alle Menschen dieser Erde sprechen in etwa mit derselben Geschwindigkeit, und auch wenn sie manchmal schneller sprechen, sagen sie nicht unbedingt mehr. Grundlage dieser temporalen Kompetenz ist das Drei-Sekunden-Fenster der subjektiven Gegenwart. Dabei handelt es sich nicht um einen Wert wie bei einer physikalischen Konstante, sondern um den operativen Bereich mit leichten Schwankungen. Das Drei-Sekunden-Fenster lässt sich in
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