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Von Natur aus kreativ

Von Natur aus kreativ

Titel: Von Natur aus kreativ Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Poeppel , Beatrice Wagner
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Außenperspektive zu mir selbst einnehmen. Zweitens muss ich es auch wollen, in die eigene Vergangenheit zu reisen: Ich muss willentlich die Entscheidung treffen, Kontakt zu mir selbst aufzunehmen, und in einen empathischen Bezug zu mir selbst treten.
    Damit ein solcher Prozess einer erfolgreichen Befreiung möglich ist, sind gewisse neuronale Randbedingungen zu berücksichtigen, wie vor allem die zeitliche Dynamik unseres Bewusstseins, auf die man immer wieder hinweisen muss. Die neuronalen Prozesse des Gehirns sind dadurch gekennzeichnet, dass für jeweils kurze Zeitstrecken ein Gegenwartsfenster geöffnet wird. In aufeinanderfolgenden Segmenten von wenigen Sekunden werden Informationen, die durch unser Bewusstsein ziehen, zu Einheiten zusammengefasst. Dieser neuronale Mechanismus ist notwendig, damit man überhaupt Informationen verarbeiten kann, damit man etwas in seinem Bewusstsein haben kann, damit etwas in unserem Bewusstsein Identität erlangen kann. Damit ich eine Tasse als Tasse sehe, eine Blume als Blume, müssen diese in ihrer Identität erst erzeugt werden, und dies ist keine triviale Aufgabe für das Gehirn. Wie dies geschieht, dass also im Abstand von nur wenigen Sekunden jeweils überprüft wird, ob es immer noch die jeweilige Blume oder die Tasse ist, die ich sehe, ist eine der ungelösten Fragen der Hirnforschung; wir wissen nur, dass es geschieht, doch wir wissen nicht, wie es geschieht. Etwas wird für eine gewisse Zeit in seiner Identität festgehalten, und diese Identität wird bestätigt. Wenn nicht, dann besetzt ein neuer Inhalt, etwas mit einer anderen Identität, das Bewusstsein.
    Die Komplementarität von Stationarität und Dynamik, das Festhalten an einem Bewusstseinsinhalt und das Zulassen eines anderen Bewusstseinsinhaltes, ist ein Strukturmerkmal unseres Bewusstseins. Diesen natürlichen Fluss des wechselnden Bewusstseinsstromes kann man durch geistige Fokussierung überwinden; in der Konzentration versucht man, Kontinuität zu erzeugen, dass also das, was jetzt repräsentiert ist, dasselbe bleibt und nicht von etwas anderem abgelöst wird. Eine solche Kontinuität im Bewusstseinsstrom herzustellen, widerspricht allerdings den Bauprinzipien unseres neuronalen Gewebes. In dem Versuch der Befreiung aus der Versklavung des Bewusstseins muss man also evolutionäre Prinzipien durchbrechen, die dazu da sind, uns sicher an die Welt zu koppeln. Ist man in diesem Akt erfolgreich, dann ist man nicht mehr von dieser Welt – so beschreiben es zumindest viele Meister der Meditation.
    Dass der Befreiungsversuch außerordentlich schwierig ist und vielleicht nie ganz erfolgreich sein kann, ergibt sich daraus, wie unser Gehirn Informationen verarbeitet. Unsere Sprache verführt uns dazu anzunehmen, dass mentalen Geschehnisse wie Gefühle, Erinnerungen, Wahrnehmungen, Absichtenoder Denkvorgänge jeweils voneinander unabhängige Prozesse sind. Weil wir Begriffe wie „Bewusstsein“ oder „Gefühl“ entwickelt haben, die kulturgeschichtlich betrachtet sogar relativ neu sind, gehen wir leichtgläubig davon aus, es gebe in unserem Gehirn Module, bestimmte und voneinander abgegrenzte Arbeitsbereiche, die jeweils ein bestimmtes Gefühl oder das Bewusstsein repräsentieren.
    Dieser Vorstellung widersprechen zahlreiche Erkenntnisse der Neurowissenschaften. Untersuchungen haben ergeben, dass jeder psychische Akt, jede Wahrnehmung, jedes Gefühl, jede Erinnerung, jede Absicht von einem raum-zeitlichen Muster von Aktivitäten neuronal getragen wird. Aus Gründen der Architektur des Gehirns sind sich alle Nervenzellen strukturell sehr nahe und beeinflussen sich gegenseitig. Alles ist aneinander gekoppelt. So ist zum Beispiel Sehen oder Hören nur möglich, weil es einen Bezug zu neuronalen Prozessen in den Gedächtnissystemen gibt; jeder Wahrnehmungsakt ist notwendigerweise in eine emotionale Bewertung eingebunden, jede Erinnerung ist immer auch emotional gefärbt; jede Handlungsabsicht, jedes Wollen ist nur vorstellbar, indem sensorische Rückmeldungen, die zu einer emotionalen Befriedigung führen, mitgedacht werden.
    Unsere Sprache verleitet uns dazu, die einzelnen psychischen Akte als unabhängige Ereignisse zu betrachten. Diese Denkweise gilt es zu überwinden, denn in unseren Köpfen passiert etwas ganz anderes. Doch wenn man sich von dieser unzutreffenden Art, zu denken, zu befreien sucht, wird noch deutlicher, wie schwierig ein Befreiungsversuch aus der Versklavung des Bewusstseins sein muss; es geht

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