Von Natur aus kreativ
Sprache, die wir sprechen, ist schon kompliziert und undurchsichtig genug. Sprachliche Kommunikation endet fast immer im Missverstehen. Oder etwas freundlicher ausgedrückt: Man versteht immer nur eine Teilmenge dessen, was in einer Kommunikation zwischen den Parteien ausgetauscht wird. Es bleibt zumindest immer der unsagbare Rest, der sich sogar vor dem Sprechenden selbst versteckt. Die schlimmste Frage in einem Gespräch lautet: „Hast du mich verstanden?“ Wie soll man darauf antworten? Man müsste immer Nein sagen, doch man sagt immer Ja. Nur mit einer solchen Einigung auf eine Teilmenge dessen, was gesagt wurde, kann man überhaupt miteinander auskommen – doch das ist eigentlich Heuchelei.
Und dann geschieht das Unerhörte, dass das Unhörbare noch stärker überdeckt wird und durch Unverstehbares hinter noch mehr Worten versteckt wird. Der weite Rahmen des Missverstehens wird erweitert, indem in verdichteter Weise das noch weniger verständlich ausgedrückt wird, was man sowieso nicht sagen kann. Aber vielleicht ist es auch eine menschliche Sehnsucht, unverstanden zu sein, sich und anderen ein Rätsel zu bleiben. Allerdings darfman sagen, dass Vertreter mit der Berufsbezeichnung „Dichter“ dieses Problem auch erkannt haben. So meint etwa Matthias Politycki in seinem Gedicht „Blaue Blume. Rudi Schachtlmacher schüttelt den Kopf über Gedichte“:
Also ma unter uns:
Son paar verhackstückte Verse aufn Mond oda aufs Meer
oda was die da sonst imma am Wochenende
inne Zeitung reinsetzn,
das mach ich dir auch,
wenn ich ma orntlich ein inner Krone hab,
aba mit links!
Is ja doch eh alles nur
verquirlter Quark,
wode ums Verreckn nich kapierst, was gemeint is,
und wennde dann trockn durchschluckst un
das ganze Gesülz noch ma von vorn liest
und wennde die Birne dabei auch orntlich schief hältst,
damit dir die Grütze im Hirn
bis aufn letztn Tropfn zusammnenläuft, dann –
kapierstes imma noch nich!
Dass man als Naturforscher oder sonstiger Laie nicht ganz allein ist mit seiner Ratlosigkeit gegenüber mancher verdichteten Sprache, das wird auch in „Lustiger Dichter“ von Robert Gernhardt deutlich, in dem er sich über seine eigene Zunft lustvoll lustig macht. Sein Gedicht ist auch durch genussvolle Selbstreferenzialität gekennzeichnet, indem mit unverstehbaren Worten („Schlödheit“) ein Gedanke verstehbar gemacht wird:
Das Gedicht verdichtet, sagt man.
Doch was machen, wenn es labert?
Wenn es, Sinn und Form verlassend,
fremdworts durch die Zeilen zabert?
Wenn es jeglichem Verstehen
grollgleich sich und muff entzitzelt
und durch immerblaue Schlödheit
vorderrücks zum Trübfall bitzelt?
W enn es – aber halt! Der Kluge
hat schon nach der ersten Strophe
aufgehört zu lesen, ergo
ist, wer jetzt noch liest, der Doofe.
(Und der pflegt ja bei Gedichten
eh auf Sonn und Firm zu zichten.)
Dass es Probleme bei der dichterischen Aussage auf einer ganz anderen konzeptionellen Ebene gibt, insbesondere wenn es darum geht, den jeweiligen Augenblick mit seiner Erlebnisdichte einzufangen, das betont Hans Magnus Enzensberger in „Weitere Gründe dafür, daß die Dichter lügen“: Worte kommen immer zu spät oder sie sind zu früh, fallen also aus Rahmen der Unmittelbarkeit heraus:
Weil der Augenblick,
in dem das Wort glücklich
ausgesprochen wird,
niemals der glückliche Augenblick ist.
Weil der Verdurstende seinen Durst
nicht über die Lippen bringt.
Weil im Munde der Arbeiterklasse
das Wort Arbeiterklasse nicht vorkommt.
Weil, wer verzweifelt,
nicht Lust hat, zu sagen:
„Ich bin ein Verzweifelnder.“
Weil Orgasmus und Orgasmus
Nicht miteinander vereinbar sind.
Weil der Sterbende, statt zu behaupten:
„Ich sterbe jetzt“,
nur ein mattes Geräusch vernehmen lässt,
das wir nicht verstehen.
Weil es die Lebenden sind,
die den Toten in den Ohren liegen
mit ihren Schreckensnachrichten.
Weil die Wörter zu spät kommen
oder zu früh.
W eil es also ein anderer ist,
immer ein anderer,
der da redet,
und weil der,
von dem da die Rede ist,
schweigt.
Hier nimmt Enzensberger Bezug auf die zwei Formen des Bewusstseins: zum einen die rationale Reflexion über einen Sachverhalt und zum anderen das unreflektierte Erleben, das Eintauchen in den Augenblick der unmittelbaren Erfahrung. Aber natürlich sind wir auch keine Wesen, die nur der Gegenwart verhaftet sind. Beide Weisen des Bewusstseins sind wichtig, und beide sind komplementär; wir sind weder nur rationale Wesen,
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