Von Natur aus kreativ
Publikationen erscheinen; genau gezählt hat das niemand, doch die Größenordnung dürfte stimmen. Kein Hirnforscher kann das alles lesen. Wenn mansehr fleißig ist, dann studiert man mit Konzentration in einem Jahr vielleicht 100 Veröffentlichungen anderer und nimmt 1000 zur Kenntnis. Man kommt also gerade einmal an die Ein-Prozent-Grenze heran – viele studieren sehr viel weniger. Die fehlenden 99 Prozent enthalten aber auch wichtige Informationen. Trotz all der Intelligenz in den stolzen wissenschaftlichen Netzwerken gibt zurzeit keine Möglichkeit, die grundsätzlich verfügbaren Informationen in ihrer Bedeutung zu erfassen. Semantisch sensitive Verfahrensweisen, mit denen sich das verfügbare Wissen filtern ließe, gibt es nicht, trotz aller Verheißungen. Das meiste, was Wissenschaftler produzieren, wird für den Papierkorb geschrieben.
Wie aber wehrt sich die wissenschaftliche Welt gegen dieses Zuviel, wenn keiner zugeben mag, dass vieles, was sie oder er macht, bedeutungslos für den Gewinn von Wissen ist, für den Fortschritt also keine Rolle spielt und auf der Müllkippe der Belanglosigkeit landet? Jeder träumt davon, wenn nicht bedeutend, so doch mindestens ein „Arbeiter im Weinberg des Wissens“ zu sein. Aus diesem Grund entstehen lokale Netzwerke von Gleichgesinnten, die versuchen, durch bestimmte wissenschaftliche Publikationsorgane eine Richtung vorzugeben und so festzulegen, was bedeutsame Forschung ist. Es geht immer darum, die Meinungshoheit zu gewinnen, sei es an den Stammtischen der Wissenschaften oder auch in der Kunstrezeption. Das hat Konsequenzen: Es entstehen Zitationskartelle von geschlossenen Gemeinschaften, die alle wegbeißen, die nicht dazugehören, und sich gegenseitig auf die Schulter klopfen.
Allein in dem Forschungsbereich, der sich mit visueller Wahrnehmung befasst, dürfte es ein Dutzend verschiedene Zünfte geben, die nicht miteinander sprechen und die kaum voneinander wissen. Um voneinander zu wissen, müsste man interdisziplinär denken und sich mit Fragen der Psychophysik, Neuroanatomie, Neurophysiologie, Neuropsychologie, mit kognitiver Informatik, mathematischer Modellierung, phänomenologischen Methoden und sogar der Philosophie beschäftigen, und wer will oder kann das schon. Aber notwendig wäre es, vor anderen Perspektiven nicht die Augen zu verschließen, wenn man das „Sehen“ insgesamt verstehen will.
Diese Aufsplitterung der Forschung wäre im Grunde völlig belanglos und für Außenstehende auch uninteressant, wenn sie nicht politische Konsequenzen hätte: Zitationskartelle erzeugen die Illusion, dass nur in ihnen das wahre Wissen erzeugt wird. So hält das Marketing Einzug in die Wissenschaft: Am wichtigsten wird, wer die besten Marketing-Strategien hat. Das kann selbstAusdruck einer speziellen Kreativität sein, die aber mit wissenschaftlicher Kreativität nicht korrelieren muss. Die Folge sind politische Entscheidungen darüber, wer die besten Forscher, die besten Universitäten sind, die wiederum für ihre Arbeit finanziell besonders gefördert werden.
Eine nicht zu gewagte Hypothese: Jede empirische wissenschaftliche Arbeit, in der Bezug auf die Arbeit anderer genommen wird, könnte ein völlig anderes Literaturverzeichnis haben, das keinerlei Überschneidungen zum ersten aufweist, das mit dem gleichen Recht und der gleichen Expertise das Werk anderer würdigt. Warum kommt das nie vor? Es geht bei Hinweisen auf die Arbeit anderer überhaupt nicht um die Würdigung des Wissens. Es geht darum, auszudrücken, dass man dazugehört oder dazugehören möchte. Man schmeichelt den anderen, um deren h-Index zu erhöhen, in der Hoffnung, dass man von ihnen zitiert wird, und sich so der eigene h-Index verbessert. (Der h-Index wurde 2005 von Jorge E. Hirsch entwickelt und ist eine merkwürdige Erfindung. Er gibt mit einer Ziffer an, wie viele der eigenen wissenschaftlichen Veröffentlichungen in der gleichen Höhe von anderen zitiert wurden. Wenn man also zehn Arbeiten publiziert hat, und von diesen zehn wurde jede mindestens zehnmal zitiert, dann hat man einen h-Index von 10.)
Wenn man das alles bei Licht betrachtet, dann muss man feststellen, dass die meisten kreativen Leistungen nicht in Zitationskartellen oder im Mainstream zu finden sind, sondern in den vielen Welten daneben – das gilt ebenso für die Wissenschaften wie für die Künste. Um diese aufzuspüren, muss man eine neue Optik entwickeln, die auch das erfasst, was kaum sichtbar ist. Man muss
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