Von Natur aus kreativ
betrifft, und eigentlich jeden Autor: Es ist einfach viel zu viel „öffentlich“. Wir können nicht mehr genau sagen, wo wir etwas aufgegriffen haben, woher wir möglicherweise einen Gedanken übernommen haben. Deshalb sei ganz allgemein und nicht einmal mit einem schlechten Gewissen festgestellt: Jede Idee, die wir hier ausbreiten, könnten wir von anderen übernommen haben – es ist aber auch nicht ausgeschlossen, dass manches von uns ist. Da sowohl das eine als auch das andere möglich ist, befinden wir uns in einer merkwürdigen, paradoxen Situation: Wir schreiben über Kreativität, und es könnte sein, dass wir selber dies mit sehr eingeschränkter Kreativität tun, dass also alles von anderen stammt. Dies ist aufgrund des permanent überforderten Gedächtnisses immerhin möglich. Niemand kann mehr im Detail nachvollziehen, wo er etwas zuerst gesehen oder gehört hat. Unser Gedächtnis ist nicht an „Zeitmarken“ interessiert, sondern an Inhalten.
Das wäre die Außensicht auf die Dinge, die man uns als Autoren vorhalten kann. Wir meinen, dass man solche Vorwürfe gegenüber allen Autoren von Büchern wie diesem erheben könnte, was aber die Sache für uns nicht besser macht. Doch es gibt auch die andere Perspektive, die Innensicht auf die Dinge, und in dieser erfreuen wir uns unserer eigenen „Kreativität“. Auch wenn manch andere etwas bereits gedacht haben, an das wir denken, so ist es doch immer ein Vergnügen und erfüllt mit Zufriedenheit, wenn einem selbst etwas einfällt. Und dann stört es gar nicht, dass andere schon einmal das Gleiche gedacht und erdacht haben. Im Gegenteil: Es erfüllt mit Genugtuung, dass der eigene Einfall keine Singularität ist, also nichts Besonderes, sondern dass man eingebettet ist in eine Welt, in der viele Menschen über ähnliche Dinge nachdenken und zu ähnlichen Ergebnissen kommen. Wir fühlen uns dann als ein Teil eines größeren Ganzen, und was auch wichtig ist: Dass andere ähnliche Gedanken verfolgen und Einfälle haben, bestätigt einen darin, einigermaßen normal, also Herr seiner Sinne zu sein.
Dieses Gefühl, dazuzugehören, weil man ähnliche Gedanken wie andere hat oder ähnliche kreative Leistungen vollbringt, wird nicht von allen Künstlern, Forschern oder kreativen Menschen in anderen Bereichen der Gesellschaft geteilt. Allzu gerne verweist man auf die eigene, unübertroffene Kreativität, das noch nie Dagewesene, das Einmalige, das Großartige. Ich muss zugeben, dass ich mich auch und allzu oft dieser Illusion hingegeben habe. Und ich musste lernen zu erkennen und anzuerkennen, dass alles, was ich „entdeckt“ habe, immer schon entdeckt worden war, wenn auch manchmal mit anderen Worten gesagt oder dargestellt in künstlerischen Werken. Denn viele „Entdeckungen“ haben die Künste längst gemacht. Oft haben Künstler etwas vor-gedacht, was wissenschaftlich nach-gedacht wird. Es wird dann in der Sprache des Forschers umformuliert und als etwas Neues dargestellt. Diese Einsicht ist ein Grund dafür, warum so viele Gedichte in dieses Buch hineingeraten sind: Im Gedicht, und das gilt für alle Zeiten, seitdem es Dichtkunst gibt, werden oft Erkenntnisse vermittelt, die wir als Forscher mühsam nachkonstruieren. Bei der Auswahl der hier vorgestellten Gedichte haben wir uns allerdings – wenn auch nicht ausschließlich – auf solche konzentriert, in denen Witz oder Ironie vorherrschen. Dass wir Wissenschaftler meist den Erkenntnissen hinterherhecheln, zeigt sich in einer Bemerkung von Künstlern, die man oft zu hören bekommt, wenn man mit ihnen über wissenschaftliche Erkenntnisse spricht: „Aber das weiß man doch schon längst.“ Das ist auch die Erfahrung, die man mit sogenannten Laien macht, die sich darüber wundern, dass etwas, das als selbstverständlich gilt, erst noch „entdeckt“ werden musste. Ein Beispiel hierfür ist der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik. Er besagt, dass spontan ablaufende Prozesse irreversibel sind, und beschreibt eine Richtung der Zeit theoretisch. Für Laien aber ist es intuitiv verständlich, dass sich die Tasse, einmal zu Boden gefallen und zersprungen, nicht wieder zusammensetzt und auf den Tisch zurückstellt.
Dass Literaturangaben und Nachweise in Fußnoten recht fragwürdig sind, ergibt sich noch aus einer anderen Tatsache, die an die Grenzen wissenschaftlicher Moral oder sogar darüber hinaus führt. Nehmen wir nur einmal das Gebiet der Hirnforschung, auf dem jedes Jahr etwa 100000 wissenschaftliche
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