Von Natur aus kreativ
der Patientenvisite bei einer Diagnose zu widersprechen. Ebenso ist es für Doktoranden außerordentlich schwierig, ihrem Professor zu sagen, dass er sich irrt. Zur akademischen Erziehung gehört genau dies aber auch: lehren und lernen, Mut zum Widerspruch zu entwickeln. Natürlich besteht in solchen Situationen immer die Gefahr, als Querulant zu erscheinen. Deshalb sollten Gemeinschaften, wenn sie den Anspruch erheben, kreativ zu sein, in komplementärer Weise strukturiert sein, nämlich sowohl hierarchisch als auch heterarchisch. Die Hierarchie bezieht sich auf organisatorische Bereiche, die Heterarchie auf die Kreativität, auf die Genese von Wissen. Und auf dieser Ebene sind alle gleich. Man muss herausspringen aus dem Rahmen des evolutionären Erbes, Führungspersonen einfach hinterherzulaufen, und mit Mut das Neue denken – man kann sich gegen das Ausgeliefertsein in sozialen Situationen wehren. Aber Kreativität verlangt immer auch Mut.
Arthur I. Miller: Insights of Genius. Imagery and Creativity in Science and Art, New York: Springer 1996.
Es ist vor allem die Imagination, die Verbildlichung eines Gedanken, die kreatives Denken ausmacht. Dies macht Miller an Persönlichkeiten deutlich, die üblicherweise für ihre theoretischen Einsichten bekannt sind, so zum Beispiel Albert Einstein, Werner Heisenberg oder Niels Bohr. Besonders intensiv widmet Miller sich Albert Einstein, dessen Denken bereits von dem Gestaltpsychologen Max Wertheimer genauer studiert wurde. Ein Ergebnis von Wertheimers Untersuchungen war, dass im kreativen Akt ein unwiderstehlicher Drang besteht, eine „gute Gestalt“ als Ergebnis des kreativen Denkprozesses zu erzeugen– und dies gilt für jeden Menschen, nicht nur für den genialen Physiker Einstein. Eine „gute Gestalt“, eine stimmige Konstellation von Einzelelementen, ist aber ein ästhetisches Kriterium. Dies führt zu dem Gedanken, dass Kreativität immer eine ästhetische Dimension hat. Die Richtigkeit eines Gedanken muss stets auch ästhetisch überzeugen.
Paul J. Möbius: Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes, München: Matthes & Seitz 1977 (zuerst 1900).
Vielleicht sollten Leserinnen diesen Kommentar aus gesundheitlichen Gründen überspringen, denn vermutlich dürfte ihr Blutdruck in die Höhe schnellen. Vor etwa 100 Jahren, und das ist noch gar nicht so lange her, betonte der Arzt Dr. Paul Möbius die Inferiorität des weiblichen Geschlechts. „Gleichmacherei ist überall vom Uebel“, stellte er fest, „aber die Geschlechtsgleichmacherei ist ein besonders großes Uebel.“ Schließlich habe man nachgewiesen, „daß für das geistige Leben außerordentlich wichtige Hirnteile, die Windungen des Stirn- und Schläfenlappens, beim Weibe schlechter entwickelt sind als beim Manne, und daß dieser Unterschied schon bei der Geburt besteht“. Man muss es leider sagen: Die Größe eines Hirnareals wird auch heute noch mit geistiger Kompetenz in Zusammenhang gebracht. Männer und Frauen unterscheide zudem, „daß der Instinkt beim Weibe eine größere Rolle spielt als beim Manne. […] Der Instinkt nun macht das Weib tierähnlich, unselbständig, sicher und heiter. […] Mit dieser Tierähnlichkeit hängen sehr viele weibliche Eigentümlichkeiten zusammen“, so zum Beispiel „der Mangel eignen Urteils“. Fazit: „Aller Fortschritt geht vom Manne aus.“ Und so geht es in einem fort. Das Buch wurde, das sei betont, auch damals schon sehr kontrovers diskutiert, erhielt aber viel Zuspruch, auch von Frauen. Warum taucht es in diesem „Literaturverzeichnis“ auf? Aus zwei Gründen: Von einer Gleichheit von Mann und Frau, etwa was die Bezahlung gleichwertiger Tätigkeiten anbelangt, kann auch heute noch keine Rede sein. Und an den Stammtischen werden noch immer solche Ansichten vertreten, wie sie Dr. Möbius ausgebreitet hat. Der andere Grund: Was sind eigentlich heute „schwachsinnige“ Hypothesen, die man uns in 100 Jahren vorhalten wird? Eine könnte jene sein, die hinter der Altersdiskriminierung steckt: zu meinen, dass man jenseits der 50, der 60 sowieso, der 70 aber allemal, automatisch dem „physiologischen Schwachsinn“ ausgeliefert sei. Natürlich ist das Alter der größte Risikofaktor, um eine Demenz zu entwickeln, aber die meisten Menschen entwickeln schlichtweg keine. Und Gegenbeispiele besonders hoher geistiger Kompetenz bei „alten“ Künstlern, Wissenschaftlern, Politikern und Unternehmern gibt es viele.
Thomas Morus: Utopia. Ein wahrhaft
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