Von Ratlosen und Löwenherzen
kürzestem Weg nach Winchester und nahm dort das Barvermögen der Krone in Besitz. Und schon am 26. September 1087 ließ er sich in Westminster Abbey krönen. Diese unwürdige Hast ließ das Ganze wie einen Staatsstreich aussehen, aber der Erfolg gab dem jungen König Recht: Als sein großer Bruder Robert endlich aus dem Loch gekrochen kam, wo er sich vor dem Zorn ihres Vaters versteckt hatte, war alles längst passiert.
William »Rufus« bekam seinen Beinamen wahrscheinlich aufgrund seiner roten Gesichtsfarbe, die seine Zeitgenossen seinem cholerischen Temperament zuschrieben. Als er König wurde, war er ungefähr siebenundzwanzig Jahre alt und bereits ein erfahrener Soldat, und sein rasches Handeln nach dem Tod des Eroberers beweist Entschlusskraft und politisches Gespür. Er hatte eine Schwäche für ritterlichen Heldenmut, heißt es, und ebenso für französische Mode und teure Schuhe. Die Chronisten – ausschließlich Kirchenmänner – haben nicht viel Gutes über ihn berichtet, denn Rufus war ein leidenschaftlicher Sünder. Er aß und trank gerne, er warf mit Geld um sich, und er war »von Wollust getrieben«. Das alles hätten sie ihm wahrscheinlichnoch verziehen – mit Königen waren die Chronisten meist nachsichtig –, aber Rufus hatte keinen Respekt vor der Kirche, und außerdem stand er auf Männer. Wenn sich heute überhaupt noch jemand an ihn erinnert, dann hauptsächlich deswegen: William Rufus gilt als der erste schwule König in der Geschichte Englands.
Anfangs machte sein Bruder Robert, unterstützt von ihrem Onkel Odo, ihm die Krone streitig und versuchte, Rufus zu stürzen, doch dieser Versuch schlug fehl. Odo wurde endgültig enteignet und schon wieder eingesperrt. Robert kehrte zurück in die Normandie und leckte seine Wunden. Der jüngste Bruder, Henry, machte in diesen Jahren keine sonderlich gute Figur, weil er sich mal mit dem einen, mal mit dem anderen der konkurrierenden Brüder zusammentat. Doch da ihr Vater ihm keine Ländereien hinterlassen hatte, war es verständlich – und nach damaliger Sitte legitim –, dass er versuchte, sich durch Unterstützung des jeweils aussichtsreicheren der Kontrahenten Land zu verdienen. (Im Übrigen fanden Robert und Rufus auch nichts dabei, sich gelegentlich gegen Henry zusammenzutun.)
1093 erkrankte Rufus ernstlich – es ist unbekannt, woran. Jedenfalls glaubte er wie auch seine Ärzte, dass er sterben werde, und er gelobte, falls Gott ihn leben ließe, seinen Lebenswandel zu mäßigen, nicht mehr zu sündigen, sich mit Robert zu versöhnen, die Bischöfe und Äbte nicht mehr zu schröpfen und endlich zu heiraten. (Anselm von Bec, der wenig später Erzbischof von Canterbury wurde, saß praktisch auf der Bettkante, als Rufus diesen Schwur tat. Wir können uns also unschwer vorstellen, wer dem kranken König die Worte in den Mund legte.)
Doch wie so oft in solchen Fällen überdauerten die guten Vorsätze Rufus’ Genesung nicht lange. Er sündigte weiter, trug mit den Bischöfen – vor allem mit Anselm – heftige Kämpfe um Geld und Macht aus, führte Krieg gegen seinen BruderRobert, die Schotten und die Waliser, und er machte keinerlei Anstalten, wie versprochen eine schottische Prinzessin zu heiraten.
1096 brach Robert zum Ersten Kreuzzug auf und verpfändete Rufus die Normandie, um das nötige Geld für seinen »Heiligen Krieg« aufzutreiben. Rufus übernahm umgehend die Herrschaft im Stammland seiner Familie, wurde de facto Herzog der Normandie – auch wenn er den Titel nie annahm – und vereinigte somit das Reich wieder, welches sein Vater auseinandergerissen hatte. Er eroberte die Grafschaft Maine zurück, die Robert nicht hatte halten können, und richtete seinen begehrlichen Blick sogar bis auf das Poitou südlich der Loire. Im Sommer 1100 kündigte er vollmundig an, er gedenke, Weihnachten in Poitiers zu verbringen.
Doch am 2. August traf ihn auf der Jagd im New Forest ein Pfeil und verletzte ihn tödlich. Bis heute wird darüber gerätselt, ob es ein Attentat oder ein Jagdunfall war. Der Leichnam wurde jedenfalls auf einem Karren nach Winchester gebracht und in der dortigen Kathedrale unter dem Vierungsturm beigesetzt – im Beisein vieler großer Männer, aber von wenigen betrauert, behauptet ein Chronist.
Rund ein Jahr später stürzte der Vierungsturm ein. Keine Kathedrale, die etwas auf sich hält, wolle so einem König die letzte Ruhestätte bieten, deutet der Chronist an.
Mit ebenso unwürdiger Hast wie 13 Jahre zuvor
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