Von Ratlosen und Löwenherzen
Rufus griff nun dessen jüngster Bruder Henry nach der Krone, bemächtigte sich in Winchester des Kronschatzes wie einst Rufus, schwor die Mehrheit der anglo-normannischen Lords auf sich ein und wurde schon am 5. August 1100 gekrönt.
Von den vier normannischen Königen war Henry der einzige, der in England zur Welt gekommen war und sich selbst als Engländer betrachtete. Überhaupt war Henry anders. Er konnte lesen und schreiben, was ihm den Beinamen »Beauclerc« (etwa: der Hochgelehrte) eintrug. Das Ausmaß seinerBildung ist umstritten und lange Zeit wohl überschätzt worden, aber wir können getrost davon ausgehen, dass er der gelehrteste König Englands seit Alfred war.
Tod von König William »Rufus«
War Rufus ein Raubein, ein Mann des Schwertes gewesen, so zog Henry die Diplomatie vor, wenngleich er sich vor keiner Schlacht scheute, wenn er glaubte, sie sei unumgänglich, und auch ziemlich hinlangen konnte. Im Gegensatz zu Rufus war Henry ein maßvoller Trinker und hielt nichts von Völlerei (obwohl er in späteren Jahren in die Breite ging, genau wie sein Vater). Und er holte die schottische Prinzessin Matilda, dieRufus verschmäht hatte, aus der Klosterschule und heiratete sie. Sie war übrigens eine Nichte von Edgar Ætheling – dem bereits erwähnten letzten Spross des angelsächsischen Königsgeschlechts –, und deswegen geht das englische Königshaus bis auf den heutigen Tag nicht nur auf William den Eroberer zurück, wie gelegentlich geschrieben wird, sondern ebenso auf Alfred den Großen.
Anders als sein Bruder Rufus war Henry heterosexuell. Und anders als ihr Vater hielt er nicht viel auf Enthaltsamkeit und eheliche Treue: Mit einer Vielzahl adliger Mätressen zeugte er rund zwei Dutzend Bastarde und hält in dieser Disziplin bis heute den Rekord unter allen englischen Königen.
Bei seinem Regierungsantritt versprach er, den Engländern das Gesetz König Edwards des Bekenners zurückzubringen, und selbst wenn er nicht alles hielt, was er versprochen hatte, begann er doch zumindest mit einer juristischen Annäherung zwischen den (immer noch) unterdrückten Angelsachsen und den (immer noch) über sie herrschenden Normannen. Er war für seine Zeit ein visionärer Herrscher, der neben dem Rechtssystem auch die Verwaltung modernisierte und Institutionen wie etwa die königliche Kanzlei schuf, die für viele Jahrhunderte das Herzstück jeder Administration war.
Nur wenige Monate nach Henrys Krönung kehrte sein ältester Bruder Robert vom Kreuzzug heim und forderte nicht nur die Normandie zurück, sondern obendrein die englische Krone. Doch der tumbe Robert war Henry nicht gewachsen. Erst ließ er sich für 2000 Pfund im Jahr bestechen, Frieden zu halten (geldgierig wie eh und je), dann regierte er die Normandie so miserabel, dass der dortige Adel den noch nicht entdeckten Kaffee bald aushatte und Henry heimlich um Hilfe bat, seinen Bruder zu stürzen. Das gelang schließlich 1106 in der Schlacht von Tinchebray. Robert überlebte, aber Henry ließ seinen Bruder bis zu dessen Tod 1134 einsperren. Damit war der Konflikt um die Macht in der Normandie noch nicht endgültig beigelegt, aber Henry hatte die von Rufus begonneneWiedervereinigungspolitik erfolgreich fortgesetzt. Genau wie Rufus führte er den Titel des Herzogs nicht offiziell, aber er nahm dem normannischen Adel den Lehnseid ab.
Henry hatte mehr Respekt vor der Kirche als Rufus und folgte nicht dessen Beispiel, Bischofssitze jahrelang unbesetzt zu lassen, um sich derweil die Einnahmen aus dem Sprengel unter den Nagel zu reißen. Aber es war die Zeit des »Investiturstreits«, der die ganze Christenheit in Atem hielt und der den Papst veranlasste, die Muskeln spielen zu lassen. Dreh- und Angelpunkt dieses Streits war die Frage, wer denn eigentlich die Bischöfe auswählen durfte, der König oder der Papst. Ich natürlich, fand der Papst, denn sie sind Vertreter der Kirche und fallen also in meine Zuständigkeit. Wir natürlich, hielten die Könige dagegen, denn die Bischöfe sind uns lehnspflichtig, und unsere Kronvasallen suchen wir uns doch lieber selber aus, vielen Dank.
Dieser Zank, der auf dem Kontinent außer Kontrolle zu geraten drohte (schlagen Sie mal im Lexikon unter »Canossa« nach) und erst 1122 beigelegt wurde, verlief in England glimpflicher. Henry geriet mit Anselm, dem Erzbischof von Canterbury, aneinander, der beleidigt ins Exil ging und aus sicherer Entfernung die ganz große Keule schwang und andeutete, er könne den
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