Von Ratlosen und Löwenherzen
sogar selbstständige Frauen.Das 13. und 14. Jahrhundert bildeten eine kulturelle Blütezeit. Überall wuchsen Kathedralen in den Himmel, und allmählich entwickelte sich in England mit dem Perpendikularstil eine eigene gotische Prägung. Wegen der wachsenden Studentenzahlen wurden neue Colleges in Oxford und Cambridge gegründet, die teilweise mit Hallen in eben diesem Stil ausgestattet wurden, die sich an Pracht und Größe beinah mit den Kathedralen messen konnten. Die Adligen, die mit reicher Beute aus dem Hundertjährigen Krieg zurückkehrten, ließen ihre Burgen modernisieren und umbauen, und jeder, der es sich leisten konnte, wollte eine Residenz in London. Diese rege Bautätigkeit trug zum Aufschwung im Handwerk bei, und die Maurer und Steinmetze, die sich in sogenannten Logen organisierten, waren gut bezahlte, angesehene und mancherorts mächtige Männer.
Ebenso rasant entwickelte sich die Literatur. Waren in den ersten beiden Jahrhunderten nach der normannischen Eroberung literarische Texte fast nur in französischer oder lateinischer Sprache entstanden, bildete sich nun eine eigene, volkssprachliche Literatur, die mit Dichtern wie William Langland, John Gower, aber vor allem mit Geoffrey Chaucer ihren Höhepunkt fand. Auch Chroniken, politische und philosophische Texte entstanden, die weit mehr als reine Übersetzungen kontinentaler Literatur waren, die vielmehr die englische Lebenswelt widerspiegelten und kommentierten. Wie bereits erwähnt, war es gerade im 14. Jahrhundert erlaubt, beinah alles zu denken, zu sagen und zu schreiben.
Porträt Chaucers in einem Manuskript seiner Canterbury Tales
Nur bei der Bibel in englischer Sprache verstand die Kirche überhaupt keinen Spaß.
Sie hatte es nämlich gar nicht leicht gehabt während dieser Periode. Das Scheitern der Kreuzzüge, die schmachvolle Verlegung des Heiligen Stuhls nach Avignon und das ewige Hickhack mit Päpsten und Gegenpäpsten in der Zeit des Schismas hatten zu einem beträchtlichen Verlust an Macht und Einflussgeführt, und nicht nur in England wurden Stimmen laut, die die Autorität der Kirche in Frage stellten. Von Dr. Wycliff sprachen wir ja schon, der den Papst kritisierte und die heilspendende Wirkung der Sakramente anzweifelte. In dieser Stimmung entstanden auch die ersten Teilübersetzungen der Bibel, damit die Menschen das Wort Gottes unmittelbar erfahren konnten, und da ging die Amtskirche auf die Barrikaden.
Bislang war das Wissensmonopol der Kirche das Fundament ihrer Macht gewesen. Nur Geistliche konnten die lateinische Bibel lesen und auslegen. Eine Übersetzung der Heiligen Schrift bedeutete, dass diese nun auch »Laien und ungebildetenFrauen« zugänglich war, wie ein Kritiker empört schrieb, und dabei konnte doch nichts Gutes herauskommen. Tatsächlich bildete sich am Ende des 14. Jahrhunderts eine Art Sekte, »Lollarden« genannt, die Dr. Wycliffs Lehren aufgriff, zu weitaus radikaleren Ansichten weiterentwickelte und auch den Machtanspruch der weltlichen Autoritäten in Zweifel zog.
Vor allem unter den Armen, den Webern und unfreien Bauern stieß die Bewegung auf ein breites Echo, doch sie fand auch Anhänger unter dem Adel, einem Teil des Klerus und an den Universitäten. 1401 sahen weltliche und kirchliche Machthaber sich gezwungen, Gegenmaßnahmen zu ergreifen, und auf Betreiben des Erzbischofs von Canterbury erließ das Parlament ein Statut, welches das Predigen ohne kirchliche Erlaubnis verbot. Wer es trotzdem tat, konnte eingesperrt werden, bis er seine »Irrlehren« widerrief. Wer einen Widerruf verweigerte oder rückfällig wurde, konnte dem weltlichen Gesetz übergeben und verbrannt werden.
Im Laufe des 15. Jahrhunderts spitzte der Konflikt sich weiter zu. Es gab Umsturzpläne der Lollarden, und es kam zu einigen Ketzerverbrennungen. Viele waren es allerdings nicht. Noch richtete die Kirche das Augenmerk vornehmlich darauf, die »Irrgläubigen« auf den rechten Pfad zurückzuführen, weniger auf Bestrafung oder Ausrottung.
Erst viel später, im Zuge der Gegenreformation im 16. Jahrhundert, kam die Zeit, da man praktisch jeden Tag an jeder Straßenecke in London einen Scheiterhaufen brennen sehen konnte. Die furchtbare Hysterie der Hexen- und Ketzerverfolgung, die wohl wie kein anderer Themenkomplex für den schlechten Ruf des Mittelalters verantwortlich ist, hat im Mittelalter de facto niemals stattgefunden – weder in England noch anderswo.
Kapitel 5
1399 – 1461: Die Lancaster
Henry IV., der erste
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