von Schirach, Ferdinand
sei.
Der Ermittlungsrichter ärgerte sich über eine solche Summe, es roch nach Klassenjustiz.
Er lehnte den Kautionsantrag ab. »Wir sind hier nicht in Amerika«, sagte er und
fragte die Anwälte, ob sie Haftprüfung beantragen wollten.
Oberstaatsanwalt Schmied hatte
während des Termins fast nichts gesagt; er glaubte, den Gong hören zu können,
der den Kampf einläutete.
Percy Boheim war beeindruckend.
Einen Tag nach seiner Verhaftung suchte ich ihn in der Justizvollzugsanstalt
auf, der Justiziar seiner Firma hatte mich gebeten, die Verteidigung zu
übernehmen. Boheim saß hinter dem Tisch in der Besucherzelle, als wäre es sein
Büro, und begrüßte mich herzlich. Wir redeten über die verfehlte Steuerpolitik
der Regierung und die Zukunft der Automobilbranche. Er tat so, als wären wir auf einem
Stehempfang und nicht mitten in einem Schwurgerichtsverfahren.
Als wir zum eigentlichen Thema
kamen, erklärte er sofort, dass er bei der Vernehmung durch die Polizei die
Unwahrheit gesagt habe. Er habe seine Frau schützen und seine Ehe retten
wollen. Alle weiteren Fragen beantwortete er präzise, konzentriert und ohne zu
zögern.
Natürlich habe er Stefanie
Becker gekannt, sie sei seine Geliebte gewesen, er habe sie über einer Annonce
in einem Berliner Stadtmagazin kennengelernt. Er habe sie für Sex bezahlt. Sie
sei ein nettes Mädchen gewesen, eine Studentin. Er habe überlegt, ob er ihr
nach dem Studium eine Stelle als Trainee in einer seiner Firmen
anbieten solle. Er habe sie nie gefragt, warum sie sich prostituiere, aber er
sei sich sicher, dass er ihr einziger Kunde gewesen sei. Sie sei schüchtern
gewesen und erst mit der Zeit aufgetaut. »Jetzt klingt alles hässlich, aber es
war, was es war«, sagte er. Er hatte sie gern gehabt.
Am Tattag habe er bis 13:20 Uhr eine Besprechung gehabt
und sei danach, etwa um 13:45 Uhr, im Hotel eingetroffen. Stefanie habe bereits
gewartet, sie hätten miteinander geschlafen. Danach habe er geduscht und sei
sofort aufgebrochen, er habe etwas allein sein und den kommenden Termin
vorbereiten wollen. Stefanie sei im Zimmer geblieben, sie habe noch baden und
dann erst losfahren wollen. Sie habe gesagt, sie wolle erst um 15:30 Uhr los. Er habe ihr 500 Euro in ihre Handtasche
gesteckt, das sei so vereinbart gewesen.
Mit dem Lift neben der Suite
sei er direkt in die Tiefgarage gefahren, bis zu seinem Wagen habe er eine,
höchstens zwei Minuten gebraucht. Das Hotel habe er etwa gegen 14:30 Uhr verlassen, er sei zum
Tiergarten, dem größten Stadtpark in Berlin, gefahren und dort fast eine Stunde
spazieren gegangen. Er habe über seine Beziehung zu Stefanie nachgedacht und
sich überlegt, dass er sie beenden müsse. Sein Funktelefon habe er
ausgeschaltet gelassen, er habe nicht gestört werden wollen.
Um 16:00 Uhr sei er in einer
Besprechung am Kurfürstendamm gewesen, an der vier weitere Herren teilgenommen
hätten. Zwischen 14:30 Uhr und 16:00 Uhr habe er niemanden getroffen und kein Telefonat geführt. Beim
Verlassen des Hotels sei ihm niemand begegnet.
Mandanten und Strafverteidiger
haben ein merkwürdiges Verhältnis. Ein Anwalt will nicht immer wissen, was
wirklich passiert ist. Das hat auch seinen Grund in unserer Strafprozessordnung:
Wenn der Verteidiger weiß, dass der Mandant in Berlin getötet hat, darf er
nicht beantragen, »Entlastungszeugen« zu hören, die sagen würden, dass er an
diesem Tag in München war. Es ist eine Gratwanderung. In anderen Fällen muss
der Anwalt unbedingt die Wahrheit wissen. Die Kenntnis der wahren Umstände ist
dann vielleicht der winzige Vorsprang, der seinem Mandanten vor einer Verurteilung
bewahrt. Ob der Anwalt glaubt, dass sein Mandant unschuldig ist, spielt dabei
keine Rolle. Seine Aufgabe ist es, den Mandanten zu verteidigen. Nicht mehr und
nicht weniger.
Wenn Boheims Erklärung zutraf,
er also das Zimmer gegen 14:30 Uhr verlassen hatte und die Putzfrau die Tote um 15:26 Uhr gefunden hatte, blieb fast
eine Stunde. Das war genügend Zeit. In 60 Minuten hätte der wahre Täter das Zimmer betreten, das
Mädchen erschlagen und vor dem Eintreffen der Putzfrau wieder verschwinden
können. Für Boheims Aussage gab es keine Beweise. Hätte er bei seiner ersten
Vernehmung geschwiegen, wäre es leichter gewesen. Seine Lügen hatten die
Situation verschlimmert, und von einem anderen Täter gab es keine Spur. Ich
hielt es zwar für unwahrscheinlich, dass ein Gericht ihn am Ende einer Hauptverhandlung
verurteilen würde.
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