von Schirach, Ferdinand
der in vier Tagen beginnen sollte. Außer ein paar
prozessualen Anträgen hatte niemand eine tragende Idee für eine Erfolg
versprechende Verteidigung. Ein Deal, wie er sonst in der Strafjustiz üblich
ist, kam nicht infrage. Auf Mord steht eine lebenslange Freiheitsstrafe, auf
Totschlag fünf bis fünfzehn Jahre. Es gab nichts, worüber ich mit dem Richter
hätte verhandeln können.
Die ausgedruckten Videobilder
lagen auf dem Bibliothekstisch in der Kanzlei. Boheim war gestochen scharf von
der Kamera erfasst worden. Es war ein Film wie ein Taschenkino mit sechs
Bildern. Mit der linken Hand betätigt Boheim den Ausfahrschalter. Die Schranke
öffnet sich. Der Wagen fährt an der Kamera vorbei.
Und dann war es plötzlich ganz
klar. Die Lösung lag seit vier Monaten in der Akte. Sie war so einfach, dass
ich lachen musste. Wir alle hatten sie übersehen.
Der Prozess fand im Saal 500 in Moabit statt. Die Staatsanwaltschaft
hatte Anklage wegen Totschlags erhoben. Oberstaatsanwalt Schmied vertrat
selbst die Staatsanwaltschaft, und während er die Vorwürfe vorlas, wurde es
still im Saal. Boheim wurde als Angeklagter gehört. Er hatte sich gut vorbereitet,
er sprach über eine Stunde ohne Notizen. Seine Stimme war sympathisch, man
hörte ihm gerne zu. Konzentriert sprach er über seine Beziehung zu Stefanie
Becker. Er ließ nichts aus, es blieben keine dunklen Flecken. Er schilderte
den Ablauf des Treffens am Tattag und wie er das Hotel um 14:30 Uhr verlassen hatte. Die
anschließenden Fragen des Gerichtes und der Staatsanwaltschaft beantwortete er
ausführlich und präzise. Er erklärte, dass und warum er Stefanie Becker für
Sex bezahlt habe. Es sei absurd anzunehmen, dass er das junge Mädchen getötet
habe, zu dem er sonst keine Beziehung gehabt hatte.
Boheim war souverän. Man sah
allen Prozessbeteiligten an, wie unwohl sie sich fühlten. Es war eine seltsame
Situation. Niemand wollte ihn des Mordes verdächtigen - außer dass es einfach
niemand anderes gewesen sein konnte. Erst für den nächsten Prozesstag waren die
Zeugen geladen.
Die Boulevardzeitungen machten
am nächsten Tag mit der Überschrift auf: »Millionär doch nicht Killer der
schönen Studentin?« So konnte man es auch zusammenfassen.
Am zweiten
Hauptverhandlungstag wurde die Putzfrau Consuela aufgerufen. Das Auffinden der
Leiche hatte sie ziemlich mitgenommen. Ihre Angaben zur Zeit waren glaubhaft.
Staatsanwaltschaft und Verteidigung stellten keine Fragen.
Der zweite Zeuge war Abbas. Er
trauerte. Das Gericht fragte nach seiner Beziehung zu der Toten, insbesondere
ob Stefanie über den Angeklagten gesprochen habe und was sie von ihm erzählt
habe. Abbas wusste nichts darüber zu berichten.
Danach befragte der
Vorsitzende Abbas zu dem Treffen mit Stefanie vor dem Hotel, zu seiner
Eifersucht, zu seinem Nachspionieren. Der Richter war fair, er tat alles, um
herauszufinden, ob Abbas am Tattag in dem Hotel war. Abbas verneinte jede
Frage in dieser Richtung. Er schilderte seine Spielsucht, dass er Schulden
hatte, dass er jetzt geheilt sei und eine begrenzte Arbeitserlaubnis in einer Pizzeria als Spülkraft habe, um die
Schulden abzuarbeiten. Niemand im Gericht glaubte, dass Abbas log: Wer
freiwillig so Privates schildert, sagt auch sonst die Wahrheit.
Auch Oberstaatsanwalt Schmied
versuchte alles. Aber Abbas blieb bei seiner Geschichte. Er war nun fast vier
Stunden im Zeugenstand.
Ich stellte Abbas keine
Fragen. Der Vorsitzende sah mich verwundert an, immerhin war Abbas der einzige infrage
kommende Alternativtäter. Ich hatte etwas anderes vor. Die wichtigste Regel für
einen Verteidiger bei der Zeugenbefragung ist, keine Fragen zu stellen, deren
Antwort er nicht kennt. Überraschungen sind nicht immer erfreulich, und man
spielt nicht mit dem Schicksal des Mandanten.
Die Hauptverhandlung
offenbarte ansonsten kaum Neues, der Akteninhalt wurde Schritt für Schritt
nachvollzogen. Lediglich Stefanies Freundin, der sie den Grund für die Prostitution
gestanden hatte, ließ einen Schatten auf Boheim fallen. Immerhin hatte er die
Notlage des Mädchens ausgenutzt. Eine Schöffin, die ich auf unserer Seite
glaubte, rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her.
Am vierten
Hauptverhandlungstag - als zwölfter Zeuge - wurde der Polizist aufgerufen, auf
den wir gewartet hatten. Er war noch nicht lange in der Mordkommission. Seine
Aufgabe war es gewesen, das Video der Überwachungskamera im Parkhaus zu
sichern. Der Vorsitzende ließ
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