von Schirach, Ferdinand
rasender
Wahnsinniger zu sein, der unzählige Male auf den Kopf einer Studentin
einschlägt. Aber, dachte Schmied, wer kennt den Menschen schon. Und deshalb
waren Motive der Tat für ihn auch selten ausschlaggebend.
Als er zwei Stunden später die
Tür seines Arbeitszimmers abschließen und nach Hause gehen wollte, klingelte
sein Telefon. Schmied fluchte, ging zurück, hob den Hörer ab und ließ sich in
den Sessel fallen. Es war der Ermittlungsführer der Mordkommission in dieser
Sache. Als Schmied sechs Minuten später auflegte, sah er auf die Uhr. Dann zog
er seinen alten Füller aus dem Jackett, schrieb einen kurzen Vermerk über das
Telefonat und heftete ihn als oberstes Blatt in die Akte. Er löschte das Licht
und blieb noch eine Weile im Dunkeln sitzen. Er wusste jetzt, dass Percy Boheim der Mörder war.
Am nächsten Tag bestellte mich
Schmied erneut in sein Büro. Er sah fast traurig aus, als er mir die Bilder
über den Schreibtisch schob. Auf den Fotos konnte man deutlich Boheim hinter
der Scheibe seines Wagens erkennen. »An der Ausfahrt der Parkgarage des Hotels
ist eine hochauflösende Videokamera installiert«, sagte er. »Ihr Mandant ist
beim Verlassen der Garage gefilmt worden. Ich habe die Bilder heute morgen
bekommen, die Mordkommission hatte mich gestern nach unserem Gespräch noch
angerufen. Ich habe Sie nicht mehr erreichen können.« Ich sah ihn fragend an.
»Die Bilder zeigen Herrn
Boheim beim Verlassen der Hotelgarage. Sehen Sie sich bitte die Uhrzeit auf
dem ersten Foto an, die Videokamera druckt sie immer unten links aus. Die Zeit
lautet 15:26:55 Uhr. Wir
haben die Uhrzeit auf der Kamera überprüft, sie ist korrekt«, sagte Schmied.
»Die Putzfrau fand die Tote um 15:26 Uhr. Auch diese Uhrzeit stimmt. Sie wird bestätigt
durch den ersten Polizeinotruf, der um 15:29 Uhr einging. Es tut mir leid, aber es kann keinen anderen
Täter geben.«
Mir blieb nichts anderes
übrig, als die Haftprüfung zurückzunehmen. Boheim würde bis zum Prozess in
Untersuchungshaft bleiben.
In den nächsten Monaten wurde
der Prozess vorbereitet. Alle Anwälte der Kanzlei arbeiteten daran, jede
Kleinigkeit aus der Akte wurde wieder und wieder überprüft, die Funkzellen,
die DNA-Analyse, die Kamera in der Garage. Die Mordkommission hatte gut
gearbeitet, es waren kaum Fehler zu finden. Die Boheim-Werke beauftragten ein
Detektivbüro, aber auch sie ermittelten nichts Neues. Boheim selbst hielt
trotz aller gegenteiligen Beweise an seiner Geschichte fest. Und trotz der
miserablen Aussichten blieb er gut gelaunt und gelassen.
Die Polizei geht bei ihrer
Arbeit davon aus, dass es keine Zufälle gibt. Ermittlungen bestehen zu 95 Prozent aus Büroarbeit, aus
der Auswertung von Sachbeweisen, dem Schreiben von Vermerken, den Vernehmungen
von Zeugen. Im Krimi gesteht der Täter, wenn man ihn anschreit; in der
Wirklichkeit ist es nicht so einfach. Und wenn ein Mann mit einem blutigen
Messer in der Hand über eine Leiche gebeugt ist, dann ist er der Mörder. Kein
vernünftiger Polizist würde glauben, dass er nur zufällig vorbeikam und das Messer
aus der Leiche zog, um zu helfen. Der Satz des Kriminalkommissars, dass eine
Lösung zu einfach sei, ist eine Erfindung von Drehbuchautoren. Das Gegenteil
ist wahr. Das Offensichtliche ist das Wahrscheinliche. Und fast immer ist es
auch das Richtige.
Anwälte hingegen versuchen
eine Lücke in dem Beweisgebäude der Strafverfolger zu finden. Ihr Freund ist
der Zufall, ihre Aufgabe, die vorschnelle Festlegung auf eine scheinbare
Wahrheit zu verhindern. Ein Polizeibeamter sagte einmal zu einem Bundesrichter,
dass Verteidiger doch nur Bremsen am Wagen der Gerechtigkeit seien. Der Richter
antwortete, dass ein Wagen ohne Bremsen auch nichts tauge. Ein Strafprozess
funktioniert nur innerhalb dieses Kräftespiels.
Wir suchten also nach dem
Zufall, der unseren Mandant retten sollte.
Boheim hatte Weihnachten und
Neujahr in Haft verbringen müssen. Oberstaatsanwalt Schmied hatte ihm
großzügige Sondersprecherlaubnisse für seine Geschäftsführer, Wirtschaftsprüfer
und Zivilanwälte gegeben. Er empfing sie jeden zweiten Tag und leitete seine
Firmen aus der Zelle. Seine Vorstandskollegen und seine Belegschaft erklärten
öffentlich, dass sie zu ihm stünden. Auch seine Frau besuchte ihn regelmäßig.
Nur auf Besuche seines Sohnes verzichtete er; Benedikt sollte seinen Vater
nicht im Gefängnis sehen.
Aber es gab noch immer keinen
Lichtblick für den Prozess,
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