von Schirach
Situation zu vergessen.
Es wurde trotzdem nicht besser. Der Andere bestellte Whisky statt Bier, er
sprach zu laut. Paulsberg kannte die Firma, für die er arbeitete, er war in
der gleichen Branche. Sie aßen zu dritt zu Abend, der Andere trank zu viel. Er
flirtete mit Paulsbergs Frau, er sagte, sie sei schön und jung, Paulsberg sei
zu beneiden, und er trank weiter. Paulsberg wollte gehen. Sie begann, über Sex
zu sprechen, über die Männer, die ihr Bilder schickten, die sie trafen.
Irgendwann legte sie ihre Hand auf die Hand des Anderen. Sie gingen in das
Zimmer, das sie immer buchten.
Als der Andere mit seiner Frau schlief, saß Paulsberg auf dem Sofa. Er sah
sich das Bild über dem Bett an: Eine junge Frau steht am Meer, der Künstler
hatte sie von hinten gemalt, sie trägt einen blau-weißen Badeanzug wie in den
Zwanzigerjahren. »Sie muss schön sein«, dachte er. Irgendwann würde sie sich
umdrehen, den Maler anlächeln und mit ihm nach Hause gehen. Paulsberg dachte
daran, dass sie jetzt seit acht Jahren verheiratet waren.
Als sie später alleine im Wagen saßen, schwiegen beide, sie sah aus dem
Beifahrerfenster ins Dunkle, bis sie zu Hause waren. Nachts ging er in die
Küche, um ein Glas Wasser zu trinken, und als er zurückkam, sah er auf ihrem
Nachttisch das Display ihres Telefons leuchten.
Sie nahm längst Prozac, ein Antidepressivum. Sie glaubte davon abhängig zu
sein, sie verließ nie das Haus ohne die weiß-grüne Packung. Sie wusste nicht,
warum sie die Männer befriedigte. Manchmal nachts, wenn es im Haus still
geworden war, wenn Paulsberg schlief und sie die hellgrünen Ziffern ihres
Weckers nicht mehr ertragen konnte, zog sie sich an und ging in den Garten. Sie
legte sich auf einen der Liegestühle am Pool, sie sah in den Himmel, sie
wartete auf das Gefühl, das sie kannte, seit ihr Vater gestorben war. Sie
konnte es kaum ertragen. Es gab Milliarden von Sonnen-Systemen in dieser
Milchstraße und Milliarden solcher Milchstraßen. Dazwischen war es kalt und
leer. Sie hatte die Kontrolle verloren.
Paulsberg hatte den Anderen längst wieder vergessen. Er war auf der
Jahreskonferenz des Verbandes, die jedes Jahr in Köln stattfand. Er stand im
Frühstückssaal am Büfett. Der Andere rief seinen Namen. Paulsberg drehte sich
um.
Plötzlich bewegte sich die Welt langsamer, sie wurde zähflüssig. Später
konnte er sich an jedes Bild erinnern, an die Butter, die in Eiswasser schwamm,
an die bunten Joghurtbecher, die roten Servietten und die Wurstscheiben auf
dem weißen Hotelporzellan. Paulsberg dachte, der Andere sehe wie einer dieser
blinden Lurche aus. Er hatte sie als Kind in den lichtlosen Höhlen in Jugoslawien
gesehen. Damals hatte er einen gefangen, er hatte ihn den ganzen Weg zum Hotel
in der Hand gehalten, er wollte ihn seiner Mutter zeigen. Als er die Hand
geöffnet hatte, war er tot gewesen. Der Kopf des Anderen war kahl rasiert,
wässrige Augen, dünne Brauen, wulstige Lippen, fast blau. Sie hatten seine Frau
geküsst. Die Zunge des Anderen bewegte sich in Zeitlupe, sie stieß an die
Innenseite der Vorderzähne, als er seinen Namen sagte. Paulsberg sah die
farblosen Speichelfäden, die Poren auf seiner Zunge, die langen dünnen
Nasenhaare, den Kehlkopf, der von innen hart gegen die gerötete Haut drückte.
Paulsberg verstand nicht, was der Andere sagte. Er sah das Mädchen im
blau-weißen Badeanzug von dem Hotelbild, sie drehte sich zu ihm um, sie
lächelte, dann zeigte sie auf den dünnen Mann, der über seiner Frau kniete.
Paulsberg spürte, wie sein Herzschlag aussetzte, er stellte sich vor, wie er
umfallen und die Tischdecken herunterreißen würde. Er sah sich tot zwischen den
Orangenscheiben, den Weißwürsten und dem Frischkäse liegen. Aber er fiel
nicht. Es war nur ein Moment. Er nickte dem Anderen zu.
Auf der Konferenz des Verbandes wurden die üblichen Reden gehalten. Sie
sahen sich Präsentationen an, es gab Filterkaffee aus silbernen Thermoskannen.
Nach ein paar Stunden hörte keiner mehr zu. Es war nichts Besonderes.
Am Nachmittag kam der Andere in sein Zimmer. Sie tranken das Bier, das er
mitgebracht hatte. Er hatte auch Kokain dabei und bot Paulsberg eine Linie an,
er schüttete das Pulver auf den Glastisch und zog es sich durch einen gerollten
Geldschein in die Nase. Als er ins Bad wollte, um sich die Hände zu waschen,
folgte Paulsberg ihm. Der Andere stand vor dem Waschbecken, er hatte sich
runtergebeugt, um sich das Gesicht zu waschen. Paulsberg sah die
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