Von Tod und Wiedergeburt (German Edition)
verwirklichten.
Das Klare Licht des Wahrheitszustands bietet dem Sterbenden, je nach Geistesschärfe und Ausrichtung der gespeicherten karmischen Eindrücke, an jedem Lebensende eine blitzartige Erfahrung von Erleuchtung, die es zu halten gilt. Die beste Vorbereitung auf diesen Augenblick ist das Vertrauen in die Lehre und das Üben der verschmelzenden Phase in der täglichen Meditation. Gelingt es, in der nackten Bewusstheit des Erlebers zu verweilen und ungestört von gemischten Gefühlen, Erwartungen oder Sinneseindrücken einfach »die Wahrnehmung selbst« zu sein, ist das eine erstklassige Vorbereitung, um das 20 bis 30 Minuten nach dem letzten Ausatmen entstehende Klare Licht ins Uferlose auszudehnen. Hingabe und Vertrauen zur Erleuchtung geben hier Kraft, und wer zu sich stehen kann, weil er dasselbe dachte, sagte und auch ausführte und durch Liebe überpersönlich heranreifte, hat so im Zwischenzustand die Möglichkeit, die wahre Natur des Geistes zu erkennen und letztendlich im sogenannten Wahrheitszustand des Geistes zu verweilen.
Hat man allerdings im Leben wenig oder halbherzig meditiert und wenig Lust auf die Verschmelzungsphasen gehabt, reicht die Tiefe der darin gewonnenen Einsicht nicht aus, um im Zwischenzustand Erleuchtung zu erreichen. Das Klare Licht erscheint sogar der kleinsten Fliege im Tod, aber die Fähigkeit, es zu erfahren und bewusst im Hier und Jetzt zu verweilen, ist das Ergebnis von verantwortungsvoller Ehrlichkeit, mutigen Vorsätzen, regelmäßiger Übung und Erleuchtungswünschen zu Lebzeiten zum Besten anderer. Wer wenig bewusst lebte, erfährt nach der Dunkelheit dann nur ein erschreckendes Aufblitzen seiner innewohnenden Weisheit. Wendefreudigkeit und andere Arten der Feigheit sind hierbei grundlegende Hindernisse für jede Verwirklichung ebenso wie die Neigung, sich vor unangenehmen Tatsachen zu verstecken oder die Probleme den Nachkommen zu überlassen. Das gutmenschliche Nicht-sehen-Wollen und Ausklammern sowie das Festhalten an offensichtlich überholten und schädlichen Sichtweisen hinterlassen schwierige Gewohnheiten im Geist.
Kurz gesagt: Die Erfahrung des zeitlosen Klaren Lichtes ist für Nichtmeditierende meist so ungewohnt und kraftvoll, dass sie es nicht ertragen können. Weicht man im Tod vor der selbsttätig erleuchteten Weite des Raumes und dessen Strahlkraft zurück, bricht eine tiefe Ohnmacht gleich einer riesigen Welle über einem zusammen.
Abb. 20 Die Vier Buddhazustände
Die Lichtformen des Freudenzustands
Hat man das Klare Licht nicht halten können, währt diese Ohnmacht etwa drei Tage – in vielen Texten werden 72 oder mehr Stunden genannt. Meiner Erfahrung nach sind es bei gebildeten Menschen etwa 68 Stunden. Dann kommt der Geist nach tiefer Unbewusstheit wieder zu sich, entweder schlagartig oder wie aus einem tiefen Schlaf heraus.
Man befindet sich immer noch im Zwischenzustand der letztendlichen Natur, ist weiterhin ohne Ich-Vorstellung und bekommt nun eine zweite Gelegenheit, seinen Geist auf überpersönlicher und befreiender Ebene über die Verschmelzung mit einer vertrauten Buddhaform zu erkennen und sich damit zu befreien.
Unbeeinflusst durch Vorstellungen von einem Selbst, einem Körper oder dessen Sinneseindrücken, erscheint alles auf höchster Ebene der reinen Form. Alle Wesen sind dann Buddhas, so wie man es sich nach der Verschmelzungsphase immer in der Meditation vorgestellt hat, alle Geräusche Mantras und alle Gedanken selbstentstandene unmittelbare Weisheit. Dieser Zustand dauert meistens eine Woche, also vom dritten bis zum zehnten Tag, und drückt den spielerischen Freudenzustand (sanskr.: sambhogakaya, tib.: longku) des Geistes zwischen dem beim Tod verpassten Wahrheitszustand (sanskr.: dharmakaya, tib.: chöku) und dem später erscheinenden kraftvollen Ausstrahlungszustand (sanskr.: nirmanakaya, tib.: tulku) aus. Die überpersönlichen drei Zustände sind zugleich Ausdrucksformen vom letztendlichen Wesenszustand (sanskr.: svabhavikakaya, tib.: ngowonyiku), so wie Feuchtigkeit, Wolken, Regen und Schnee alle aus Wasser sind.
Abb. 21 Die 42 friedlichen und 58 schützenden Buddhaformen
im Bardo der Soheit (tib.: shitro)
In diesem zweiten Teil des Bardos der Soheit verweilt der Geist bei seinem Reichtum an reinen Erscheinungen. Man erlebt die erleuchtenden Buddhaformen und ihre Kraftfelder jedoch nur, wenn man durch Segen, Übertragung, geleitete Meditationen oder Einweihungen aus vergangenen Leben ein Verhältnis zu ihnen
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