Von Tod und Wiedergeburt (German Edition)
verstehen, dass Sterben, Tod und Verlust allen geschieht, es also nicht persönlich ist. Klug ist während der Trauerzeit, das Meistmögliche der Kraft der Gefühle in anderen Bereichen zu nutzen, während man mit seiner Erfahrung innerlich weiterarbeitet und damit auch anderen in der gleichen Lage hilft.
Fragt man tibetische Lamas nach Gegenmitteln, werden sie einem zwar mit Mitgefühl begegnen, aber gleichzeitig behaupten, dass jede Trauer nur auf der Grundlage von Anhaftung geschieht.
Marpa
Nach dem Tod seines Sohnes Tarma Dode fragte ein Schüler den großen Verwirklicher Marpa (1012–1097), der die Kagyü-Linie nach Tibet gebracht hatte: »Wie geht es dir?« Marpa antwortete: »Elend.«
Der Mann war fassungslos. Er fragte: »Elend?« Aber Marpa lachte. Er sagte:
»Ja, aber mit einem Unterschied, und der Unterschied ist, dass das Elend freiwillig ist. Manchmal, um einen Geschmack von der Welt zu haben, bewege ich mich nach draußen, aber ich bin dabei der Meister. In jedem Augenblick kann ich wieder nach innen gehen, und es ist sinnvoll, sich innerhalb der Gegensätze zu bewegen. Dann bleibt man lebendig.« Marpa fügte hinzu: »Manchmal bewege ich mich in den Kummer, aber der Kummer ist nichts, was mir geschieht. Ich sehe ihn und bleibe dabei unberührt.«
Der entscheidende Augenblick
W enn 20 bis 30 Minuten nach dem Herzstillstand das weiße und das rote Licht zusammenkommen, sind 33 Gefühle des Zorns und 40 der Anhaftung in den Raum zurückgekehrt. Jetzt lösen sich die sieben Gefühle auf, die aus Dummheit entstehen. Jenseits aller Eindrücke und Erfahrungen verschwinden danach endgültig alle Vorstellungen und Wahrnehmungen. Alles wird dunkel und still. Dies ist der letzte Augenblick im Bardo des Sterbens.
Abb. 19 Bardo des Todes im zeitlichen Überblick
Das Klare Licht des Wahrheitszustands
Nun bricht die dem Geist innewohnende überwältigende Strahlkraft blitzartig durch. Das ist der entscheidende Augenblick, auf den man sich zu Lebzeiten, wenn man mit seinem Geist arbeitet, bereits einstellen und freuen kann. Jetzt, nachdem sich alle Sinneseindrücke, Erwartungen und gemischten Gefühle aufgelöst haben, bleibt nur eines übrig: der Erleber selbst, der allzeit Gesuchte. Niemals ist er so unmittelbar »sich« wie hier. »Es ist ein ungeschaffener, natürlicher, ungekünstelter Zustand des Geistes, bei dem es kein Entstehen, Bestehen und Vergehen gibt.« [30] Als Meditierender versucht man, sich bei jeder Vertiefung seinem zeitlosen Wesen zu nähern, bleibt aber in der Regel von wechselnden Erfahrungen gefangen und beeinflusst. Erst nach jahrelanger Übung kann der Zustand erfahren werden, den man im Tod einfach geschenkt bekommt. Wer ihn (aus-)halten und in Zeit und Raum ausdehnen kann, wird selbst ein Buddha. Wie ein Fisch aus dem Wasser springt, ist der Geist jetzt frei, spielerisch und grenzenlos. Durch den Wegfall aller bindenden, hemmenden und begrenzenden Wirkungen früherer Taten und ohne Trennung zwischen Erleber und Erlebtem erfährt er sein zeitloses Wesen. Jenseits aller Vorstellung von Bewusst und Unbewusst, durch keine Gewohnheiten gebunden und ohne Ablenkungen durch einen Körper, erlebt das Gewahrsein des Verstorbenen nun seine uferlose Leuchtkraft auf Herzensebene.
Man verweilt in einem allumfassenden Aha-Erlebnis, ähnlich einem Kind, das in einem dunklen Gang das Tor in eine lichtdurchflutete Halle aufstößt. Erleben, Erleber und Erlebtes sind frisch, eins und an sich wahr, und alles ist nackte Bewusstheit – ohne jedes Hinterfragen. Im Augenblick entstehende Einsichten verbinden unmittelbar Erleber, Welt und Erfahrung im Hier und Jetzt.
Die Tibeter sprechen vom Chönyi Bardo, in der Übersetzung aus dem Sanskrit heißt es »die Erfahrung des Dharmata«. Im Westen spricht man von dem »Zwischenzustand der Soheit«, dem strahlend-bewussten Klaren Licht oder dem »Wahrheitsraum«. Wird dies im Augenblick des Sterbens erfahren, heißt es auch »Sohn-Klare-Licht«. Es ist in seiner Kraft völlig überwältigend und erfährt sich als uferloses Strahlen. Alles, was erlebbar oder vorstellbar ist, wohnt dem Raum des nackten Bewusstseins inne. Verschmilzt das eigene »Sohn-Klares-Licht« mit dem »Mutter-Klaren-Licht« des alles durchdringenden Gewahrseins des Raumes, ist alles erkannt und verwirklicht, und der Zustand des Großen Siegels ist erreicht. Der Sohn entspricht den Erfahrungen des Verstorbenen vom Klaren Licht während der Verschmelzungsphase der Meditation. Die
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