Von Tod und Wiedergeburt (German Edition)
nun die Verwirrung des Sterbens weiter fort: Aufgrund der gewohnten Anhaftung an Welt und Körper will man sein Ableben nicht wahrhaben und versucht, sich mit dieser Tatsache möglichst nicht auseinanderzusetzen. Selbst wenn man noch im Autowrack liegt, weil keiner den Körper bergen konnte, oder einsam in der Wohnung verwest, verlässt der Geist den Körper und schaut nicht zurück. Vor allem bei einem überraschenden Tod versteckt sich die Einsicht, verstorben zu sein, tief unter der festen Vorstellung des Lebens und den sonstigen Eindrücken. Die in unzähligen Leben aufgebauten Gewohnheiten sind so stark, dass sie sich im Bardo des Werdens zunächst einfach fortsetzen.
Aufgrund der fehlenden neuen Sinneserfahrungen entfalten sich die im Geist gespeicherten Eindrücke und vermitteln dem Toten den Eindruck seines bisherigen Körpers in einem einigermaßen bekannten Rahmen. Je stärker man in seinen alten Vorstellungen gefangen ist, desto länger braucht man, bis man erkennt, dass die Eindrücke der Umwelt und des eigenen Körpers eingebildet sind und auf nichts fußen. Ähnlich wie man im Traum die Welt als vorhanden erlebt, aber gleichzeitig erfährt, dass etwas anders ist, hält man auch nach dem Tod die erscheinende Welt für wirklich.
Die Tage nach dem Aufwachen sind sehr bewegt. Man verlässt zwar seinen Leichnam, ohne zurückzuschauen, und folgt seinen alten Gewohnheiten: der Wunsch, herauszufinden, was geschehen ist, meldet sich aber zunehmend. Deswegen versucht man immer häufiger, Verwandte und Freunde zu treffen, vertraute Orte zu besuchen oder zur Arbeit zu gehen. Da mit dem Körper die Sinneseindrücke weggefallen sind, erlebt man die Welt durch Schwingung und Eingebung, und alles erscheint wie an einem diesigen Nachmittag oder in einen Nebelschleier eingehüllt. Die Wesen und Orte entstehen aus einem unklaren Umfeld und lösen sich darin auch wieder auf. Ohne die Ablenkung durch einen Körper stehen alle Ebenen der Einsicht zur Verfügung, weshalb man höchst begabt und scharfsinnig oder gar hellsichtig ist. Man kann Menschen umfassend wahrnehmen, alle Sprachen verstehen und Gedanken lesen. Man ist im höchsten Maße verwundert, wenn man wahrnimmt, was nahe Freunde eigentlich über einen denken und wie überraschend freundlich sogenannte Feinde einen im Geiste halten können. Ohne Körper verdichtet sich der Geist überall dort, wohin ihn seine Gedanken lenken, und alle Empfindungen und Gefühle werden unvermittelt und sehr stark erlebt.
Hat man im Leben nicht die Gewohnheit aufgebaut, seinen Geist entspannt und durch Meditation an einer Stelle zu halten, und hält man allgemein die Eindrücke für wirklich, erlebt man diese Tage als ein großes Durcheinander. Man wird von seinen eigenen verwirrten Gedanken, Erinnerungen und Gefühlen hin und her getrieben; unzählige Bilder kreuzen sich ständig, je nachdem, welche Gewohnheiten man im Leben gebildet und welche Gedanken man beim Sterben hatte. Die geistige Verwirrung zeigt genau die gleiche Gefühlsfärbung wie im letzten Leben. Aber irgendwann, wenn man wieder einmal durch eine Tür geht, ohne sie geöffnet zu haben, auf Sand tritt, ohne Fußabdrücke zu hinterlassen, in den Spiegel sieht und kein Abbild erscheint oder wenn man die Hand in siedendes Wasser taucht und es nicht schmerzt, weiß man unwiderruflich: »Ich bin tot.«
Darüber ist man kurzfristig sehr verwirrt. Manche Lehrer reden von einer erneuten kurzen Ohnmacht, aus der man schnell wieder erwacht. Nun verliert man zusehends die Verbindung zum vergangenen Leben. Zunächst schwankt der Geist noch zwischen der gewohnten Erfahrungswelt des vergangenen Lebens und den immer stärker auftauchenden Neigungen und Gefühlen aus dem Speicherbewusstsein hin und her, doch dann übernehmen die gesammelten Eindrücke aller Leben die Führung. Je nachdem, ob der Gefühlsstrom im Speicherbewusstsein des Verstorbenen einbeziehend und warm oder berechnend und ichbezogen ist, wird die Zeit im Bardo als angenehm oder leidvoll erlebt. Mit Freude oder zunehmender Angst erkennt man, dass sich das Feld der zukünftigen Möglichkeiten immer mehr einengt. Nach der Hälfte der sieben Wochen nach dem Tod, die man in Zwischenzuständen zwischen letztem Leben und Wiedergeburt verbringen kann – also nach etwa 25 Tagen –, wird die Ausrichtung des Bewusstseinsstroms klar, und die Zukunft zeichnet sich ab. Ist der Freundes- und Familienkreis nun im Namen des Verstorbenen nicht großzügig, oder hat man keine
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