Von wegen Liebe (German Edition)
Ich beschloss, ihm noch bis Montagnachmittag Zeit zu geben. Wenn er bis dahin immer noch nicht wieder aufgetaucht war, würde ich einfach in sein Zimmer platzen und … tja, keine Ahnung, was ich dann tun würde.
In der Zwischenzeit versuchte ich, nicht an meinen Vater oder die Scheidungspapiere auf dem Küchentisch zu denken.
Es war überraschend einfach.
Die meisten meiner Gedanken drehten sich um Wesley. Grauenhaft. Aber ich konnte nicht aufhören, darüber nachzugrübeln, wie ich ihm am Montag in der Schule gegenübertreten sollte. Wie verhielt man sich nach einem One-Night-Stand (oder in meinem Fall One-Afternoon-Stand) mit dem größten Weiberhelden der Schule? Sollte ich einfach locker bleiben und ihn wie immer behandeln, nämlich mit unverhohlener Abneigung? Oder sollte ich mich, weil es mir, wenn ich ehrlich war, ziemlich gut gefallen hatte, dankbar ihm gegenüber zeigen? Womöglich nett zu ihm sein? War ich ihm irgendetwas schuldig? Ganz sicher nicht. Er hatte genauso viel davon gehabt wie ich, außer dass er sich deswegen nicht selbst verachtete.
Als ich am Montagmorgen schließlich in die Schule kam, hatte ich mich dafür entschieden, ihm komplett aus dem Weg zu gehen.
»Ist irgendwas, B?«, fragte Jess, als wir nach der Spanischstunde den Korridor entlanggingen. »Du bist irgendwie komisch.«
Ich wusste, dass Wesley auf dem Weg zur zweiten Stunde hier vorbeikommen würde, und wollte keine peinliche Am-Tag-nach-dem-Sex-Begegnung auf dem Flur riskieren. Deswegen hielt ich die ganze Zeit unruhig nach den unverwechselbaren braunen Locken Ausschau. Wenn Jess allerdings daraus schließen konnte, dass irgendetwas nicht stimmte, stellte ich mich dabei offenbar nicht besonders geschickt an.
»Alles bestens«, log ich, während ich erneut, diesmal hoffentlich etwas unauffälliger, den Blick hin und her wandern ließ wie ein Kind, das eine stark befahrene Straße überqueren muss. Als ich ihn nirgends entdeckte, atmete ich erleichtert auf. »Allerbestens.«
»Na dann«, sagte Jess ohne einen Hauch von Argwohn und schob sich eine abtrünnige Strähne aus ihrem Pferdeschwanz hinters Ohr. »Ach, B!«, rief sie plötzlich aufgeregt. »Das hab ich ja völlig vergessen, dir zu erzählen!«
»Lass mich raten«, sagte ich neckend. »Es hat etwas mit Harrison Carlyle zu tun, stimmt’s? Hat er dich gefragt, wo du deine süße Skinny Jeans herhast? Oder womit du deine glänzende Haarpracht pflegst?«
»Nein!«, kicherte Jess. »Nein, es geht um meinen Bruder. Er kommt für anderthalb Wochen zu Besuch und holt mich heute Nachmittag von der Schule ab. Ich freu mich so, ihn zu sehen. Es ist fast zweieinhalb Jahre her, seit er zum Studieren weggegangen ist, und … Hey, B, bist du wirklich sicher, dass alles okay mit dir ist?«
Ich stand wie erstarrt mitten im Gang und spürte, wie mir das Blut aus dem Gesicht sackte. Mir wurde speiübel, meine Hände wurden kalt und fingen an zu zittern. »Mir geht’s gut«, murmelte ich schließlich und zwang meine Füße, weiterzugehen. »Ich … ich dachte nur, ich hätte was vergessen. Wirklich, es ist nichts. Ähm, was hast du gerade gesagt?«
Jess strahlte. »Dass ich mich so auf Jake freue! Ich hätte nie gedacht, dass ich mal so etwas sage, aber ich hab ihn wahnsinnig vermisst. Gott, bin ich aufgeregt! Oh, und ich glaube, er bringt Tiffany mit. Hab ich dir erzählt, dass sie sich vor Kurzem verlobt haben?«
»Nein. Hey, das ist doch toll. Sorry, Jess, aber ich muss jetzt wirklich los, sonst komm ich zu spät zu meinem nächsten Kurs.«
»Oh … okay … Wir sehen uns dann später in Englisch«, stammelte sie verblüfft, aber da war ich schon losgetrabt.
Ich schob mich an den anderen Schülern vorbei und bekam kaum etwas von den genervten Kommentaren mit, die sie mir hinterherzischten, weil ich ihnen auf den Fuß getreten war oder sie mit meinem Rucksack angerempelt hatte. Als würde jemand mit einer Fernbedienung den Ton leiser stellen, nahmen die Geräusche um mich herum immer mehr ab, während Erinnerungen auf mich einstürmten, auf die ich gern verzichtet hätte. Es war, als hätten Jess’ Worte den Damm zum Einsturz gebracht, der sie so lange in Schach gehalten hatte.
»Du bist also Bianca? Die kleine Neuntklässlerinnen-Schlampe, die es mit meinem Freund getrieben hat?«
»Dein Freund? Ich habe nicht …«
»Halte dich verdammt noch mal von Jake fern!«
Meine Wangen brannten, als ich diese grauenhafte Situation noch einmal durchlebte, und meine Füße hatten es
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