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Von Zweibeinern und Vierbeinern

Von Zweibeinern und Vierbeinern

Titel: Von Zweibeinern und Vierbeinern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Herriot
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auf eine Box am Ende des Stalls zu.
    »Da ist sie«, sagte sie und hielt sich die Hand vor die Augen. »Ich kann es nicht sehen!«
    Tina war eine wunderschöne weiße Saanon-Ziege. Aber ihre Schönheit war lädiert durch eine große Wunde. Ein Stück Fell hing wie ein großes V von ihrer Schulter herunter und gab die nackte Glätte des Supraspinatus- und des Infraspinatus-Muskels frei, durch den weißlich der Grat des Schulterblatts hindurchschimmerte.
    Es sah wirklich ziemlich übel aus, aber es war nur eine Oberflächenverletzung und ich würde die Wunde gut nähen können und eine gute Figur dabei machen. Ich sah mich in Gedanken schon den letzten Faden verknoten und auf die fast unsichtbare Naht deuten. »Jetzt sieht es schon viel besser aus, nicht wahr?« und Miss Grantley würde begeistert sein. Aber vorerst mimte ich den sorgenvollen Tierdoktor.
    »Ja... ja«, murmelte ich, während ich die Wunde untersuchte. »Wirklich übel, ziemlich übel.«
    Miss Grantley rang die Hände. »Glauben Sie, daß Sie sie retten können?«
    »Ich hoffe es«, sagte ich und nickte gewichtig. »Ich muß die Wunde nähen, und es wird ziemlich lange dauern, bis sie verheilt, aber ich denke doch, daß das arme Tier durchkommen wird.«
    »Dem Himmel sei Dank!« Sie seufzte erleichtert auf. »Ich hole heißes Wasser.«
    Bald konnte ich anfangen. Nadeln, Baumwollwatte, Schere, Fäden zum Nähen und Pinzetten lagen auf einem sauberen Tuch, Tristan hielt Tinas Kopf, Miss Grantley stand ängstlich und hilfsbereit dabei.
    Ich säuberte die Wunde gründlich, bestäubte sie mit antiseptischem Puder und begann zu sticheln. Miss Grantley fungierte als Operationsschwester. Sie reichte mir die Fäden, die Schere. So fing alles gut an. Doch es war eine sehr lange Wunde, und es würde sehr lange dauern, sie zu nähen. Deshalb wollte ich eine leichte Unterhaltung in Gang bringen.
    Tristan kam mir jedoch zuvor. Er hatte offenbar den selben Gedanken gehabt. »Ein wunderschönes Tier, diese Ziege«, sagte er.
    »Ja, nicht?« Miss Grantley warf ihm ein strahlendes Lächeln zu.
    »Wenn man bedenkt, daß die Ziegen wahrscheinlich die frühesten Haustiere waren...« fuhr er fort. »Ich finde es ungeheuer aufregend, wenn ich an die zahlreichen Beweise für die Domestizierung von Ziegen in prähistorischer Zeit denke. Da sind die Höhlenmalereien, und später wird die Existenz von Ziegen überall in der Welt in den ältesten Schriften erwähnt. Die Ziegen sind Teil der Welt des Menschen gewesen, seit die Menschen Dinge aufzeichnen. Welch faszinierender Gedanke.«
    Ich hockte am Boden und sah überrascht zu ihm hoch. Während meiner Bekanntschaft mit Tristan hatte ich schon mancherlei entdeckt, was ihn faszinierte, schöne Kurven zum Beispiel, aber Ziegen waren bisher nicht dabei gewesen.
    »Und noch etwas«, fuhr er fort. »Sie haben einen so phantastischen Stoffwechsel. Sie konsumieren Nahrung, die andere Tiere nicht einmal ansehen, und sie produzieren bei dieser Ernährung auch noch reichlich Milch.«
    »Ja, das stimmt«, hauchte Miss Grantley verzückt.
    Tristan lachte. »Und sie sind richtige Persönlichkeiten, rauh und hart, unter allen klimatischen Bedingungen, absolut furchtlos und bereit, es mit jedem anderen Tier aufzunehmen, einerlei wie groß es sein mag. Und es ist ja auch eine bekannte Tatsache, daß sie, ohne Schaden zu nehmen, viele giftige Pflanzen fressen können, die jedes andere Lebewesen in kürzester Zeit umbringen würden.«
    »Ja, sie sind wirklich erstaunlich.« Miss Grantley starrte meinen Freund an und reichte mir, ohne die Augen von ihm abzuwenden, die Schere.
    Ich hatte das Gefühl, auch einen Beitrag zur Unterhaltung leisten zu müssen. »Ziegen sind sicherlich äußerst...« begann ich.
    »Aber das wissen Sie ja alles selber.« Tristan ließ sich in seinem Redefluß nicht unterbrechen. »Was mich am meisten bei Ziegen anzieht, ist ihr liebenswürdiges Wesen. Sie sind freundlich und gesellig, und ich glaube, das ist der Grund, weshalb die Menschen so sehr an ihnen hängen.«
    Miss Grantley nickte ernst. »Das ist wahr, ja, das stimmt.«
    Mein Kollege streckte die Hand aus und befühlte das Heu in dem Reck. »Ich sehe, daß Sie sie genau richtig füttern. Es ist auch allerlei grobes Zeug im Heu – Disteln und kleine Stücke Buschwerk und rauhe Blätter. Offensichtlich wissen Sie, daß Ziegen so etwas lieber fressen als nur Gras. Kein Wunder, daß Ihre Tiere so gesund sind.«
    »Oh, vielen Dank.« Miss Grantley errötete.

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