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Voodoo Holmes - Holmes auf Haiti. Novelle

Voodoo Holmes - Holmes auf Haiti. Novelle

Titel: Voodoo Holmes - Holmes auf Haiti. Novelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Berndt Rieger
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über- und untereinander, und jeder hatte einen Gesichtsausdruck wie jemand, der weiß, dass er einen Tag wie diesen nur einmal im Leben erfährt. Einen Tag der Verzückung, der Himmelfahrt. Und so war es: Dort, wo am Vortag noch Dunkelheit geherrscht hatte, durchtost von Menschenstimmen, zeigte der Altarraum an seinem  Ende ein lichte Öffnung in der Decke, in der man den Himmel sah. Dort hinauf führte eine Treppe. Dort standen weitere Menschen Spalier. Wir bewegten uns auf diese Treppe zu. Ich kroch mühsam an der Kette gehalten meinem Bruder nach. Meine Knie waren aufgeschrammt. Ich versuchte mich mehrmals aufzurichten, aber es ging nicht. Obwohl er gemessenen und majestätischen Schrittes voran ging, zog er immer dann, wenn ich in die Höhe kommen wollte, an der Kette und warf mich damit zu Boden. Es war sehr entmutigend, was da passierte, es war demütigend, aber ich fühlte eine Schwäche in mir wie selten zuvor, wie man sich in einem Fiebertraum fühlt, vielleicht. Wir kamen die Treppe hoch. Ich kroch mehr als ich ging die Stufen hinan und kam hinter meinem Bruder ins Licht. Da sah ich, was mich an der Spitze des Tempels erwartete: Ein Altar. Blutüberströmt, noch riechend von einem vorangegangenen Opfer. Und daneben ein Schwert und der Kopf einer Frau, der dort schon über Nacht gelegen haben mochte. Mein Bruder nahm ihn auf, zog ihn an den Haaren in die Höhe und hob ihn so hoch er konnte gegen den Himmel, während die Menschen, die uns umgaben, schrien. Aufschrien wie mit einer Stimme, hier oben, wo der Wind uns umstrich und wo wir ringsum vom Meer umgeben waren, einsam im Ozean auf dieser Insel, aber auch unten im Schlund des Tempels, wo Menschen hockten und vor sich hin murmelten wie Wesen in Trance, und auch hinten unten im Freien, wo sich die Menschenmenge versammelt hatte, aus dem Urwald zusammengelaufen. Ärmliche Menschen mit leeren Gesichtern, ausgemergelte Menschen, gekleidet in Fetzen, die in einem eigentümlichen Kontrast zum Prunk und Ornat der Menschen hier oben standen. Und die Pracht dieser Kleider der Höflinge, die in nächster Nähe meinem Bruder huldigten, wurde noch von dem Mantel übertroffen, den sie ihm nun umhängten. Er ließ es geschehen, ohne irgend jemanden eines Blickes zu würdigen. Blickte gelassen über das Meer, als sei auch er weit weg bei den Gebeten der Menschen. Man reichte ihm das Schwert. Er nahm es, wie nebenbei. Kräftige Männer mit riesigen Oberkörpern packten mich an den Armen, zerrten mich auf den Altar, der wenig mehr als ein Schlachtblock war. Doch so kräftig und muskulös diese Schergen waren, es gelang ihnen nicht, meinen Körper zur Krümmung zu bringen. Zu einer devoten Geste, die es ihnen erlaubt hätte, meinen Nacken zu sehen. Sie wollten mich nach vorne stoßen, so dass mein Kopf auf dem Block gelegen hätte für einen kurzen Hieb. Ich blickte auf zum blutleeren Schädel meiner Mutter. Mein Bruder hatte ihn an den Haaren gepackt. Der Mund stand offen, die Augen waren trüb geworden. Doch sie war es. Zweifellos. Es war die Mutter meiner Träume, und war es zugleich nicht, sondern nur ein Gegenstand, dem etwas Beliebiges anhaftete. Sie war die Schlange gewesen, der mein Bruder gestern dieses Haupt ab hieb. Zugleich aber war sie ein Fabelwesen mit unendlich vielen Schlangenhäuptern, die dann, wenn man sie abtrennte, wieder und wieder nachwachsen würden. Das schien auch mein Bruder so zu empfinden, denn er ließ ihn einfach fallen, und der Frauenschädel kollerte hinter uns die Stufen hinab. Zuerst schien er stehen bleiben zu wollen, dann rollte er über eine Stufe, und die nächste, und verschwand im Dunkel des Tempels und doch hörte man ihn aufschlagen, und weiter rollen, und erst jetzt fiel einem auf, dass es dabei völlig still geworden war. Man hörte den Wind um den Hügel und die Mauern des Tempels streichen, und man vernahm das Poltern und Kollern und Kippen des Schädels, der seine Fahrt immer stärker beschleunigte und unten aus dem Tempel heraus fuhr und auf das Plateau rollte und dort gegen einen Stein prallte, hoch geschleudert wurde und über die Mauer den Blicken entschwand.
    All das war geschehen, während ich mich aufrichtete, und ich dachte zuerst, es habe etwas mit der Nachlässigkeit der Henkersknechte zu tun, die meine Arme selbstvergessen in der Betrachtung des kollernden Schädels weniger fest hielten als zuvor. Tatsächlich aber sah ich sie schwitzen und sich anstrengen, und blickte in ihre ungläubigen Gesichter, als ich mich

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