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Voodoo Holmes - Holmes auf Haiti. Novelle

Voodoo Holmes - Holmes auf Haiti. Novelle

Titel: Voodoo Holmes - Holmes auf Haiti. Novelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Berndt Rieger
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Seiten ein Tor offen stand. Eines davon führte in den Dschungel, das andere in eine weite Ebene, an deren Ende man die Küste Haitis erkennen konnte.
     
    Dort lag ein kleines Segelschiff vertäut, wenig größer als eine Jolle, von einem einzelnen Seefahrer bedienbar und doch ozeangängig. Ich machte mich mit ihm vertraut, verstand schnell, wie es zu bedienen war, führte es einige Stunden später auf das freie Meer hinaus und segelte so lange nordwärts, bis die Insel hinter mir verschwunden war. Denn in einem alten Buch meines Volkes heißt es: Wenn Du gehst, dann geh so, dass Du nie mehr zurückgehen kannst. Nimm das Beste mit, und wisse: Es ist nur das Schlechte, das bleibt.
     
     
     

VI
     
    Die große Mutter
     
     
    Die Frau, die alle nur große Mutter nannten, lebte in einem Teil der Insel, von dem man allgemein nur als dem Sumpf sprach. Die große Mutter im Sumpf, das war die Vorstellung einer Frau ohne besonderes Alter, einer großen Frau, die große Ruhe ausstrahlte, einer Frau, von der man nicht wusste, wie sie in den Sumpf gekommen war, wie lange sie sich dort schon aufhielt und warum. Der Sumpf war gefährlich, weil dort nicht nur die verschiedensten Arten von Fröschen, sondern auch Schlangen und Krokodile lebten. Er war gefährlich wegen der Stechmücken, die so viele verschiedene Arten von Krankheiten erzeugen konnten, dass sich schon lange die Meinung hielt, die große Mutter sei die Herrscherin über die Stechmücken, und wenn sie einen strafen wollte, schickte sie ihm eine nach, die ihn gelähmt zurück ließ, oder blind, oder stumm. Zur großen Mutter kam man über einen verschlungenen Weg, der gefahrvoll war. Die Rinden der Bäume, über die er führte, waren abgegriffen. Menschen hatten über manche Stellen, an denen man durch das Wasser musste, behelfsmäßige Brücken gebaut, oder Lianen geknüpft, von denen man freilich nie wusste, wie stabil sie waren. Es war abenteuerlich, zur großen Mutter zu gehen. Aber in diesem Jahr wagten diesen Weg viele. Es begann mit vereinzelten Menschen, dann entstand ein Rinnsal daraus, und schließlich waren es wahre Menschenmassen, die zur großen Mutter wanderten. Manche kamen zurück und erzählten, sie seien geheilt worden. Andere blieben stumm, und man wusste, dass ihnen alle Hoffnung genommen worden war. Und anders als stumm konnten sie nicht bleiben, denn wenn es der großen Mutter zu Ohren gekommen wäre, dass sie sich abfällig über sie äußerten, würde ihre Rache nicht ausbleiben. Und selbst wenn sie nicht geheilt waren, so konnten sie doch so, wie sie waren, leben.
     
    Was passiert war: Man wachte eines Morgens auf und merkte, dass sich die Zunge anders anfühlte als sonst. Manche beschrieben es so, dass sie kleiner war als am Tag zuvor. Andere behaupteten, ganz im Gegenteil, die Zunge sei größer geworden. Die einen empfanden sie länger, die anderen als kürzer. Manche hatten eine raue Zunge gehabt, die jetzt glatt war. Andere hatten Furchen dort, wo sich die Zähne eindrückten, was sie noch nie gehabt hatten. Und das merkten sie, weil sie nicht mehr sprechen konnten. Zumindest nicht so, wie sie es gewohnt waren. Manche lallten nur mehr. Andere sprachen belegt. Und wieder andere sagten Dinge, die sie vorher noch nie gesagt hatten. Manchmal in ihrer Sprache, manchmal aber auch in anderen Sprachen. Es dauerte eine Weile, bis einer sagte, es sei fast so, als wären die Zungen vertauscht worden. Und vielleicht waren sie das. Der eine machte den Mund auf und der andere glaubte, seine Zunge in diesem Mund zu erkennen. Aber selbst wenn er seine Zunge mit dem anderen hätte tauschen können: Die Zunge, die er bekommen hatte, gehörte nicht dem anderen, und so war die Sache nicht so einfach lösbar. Deshalb gingen sie zur großen Mutter. Die ersten, die kamen, brachten mehrere Hühner, und die große Mutter schlachtete die Hühner und beschmierte die Glieder der Kranken mit dem noch warmen Blut und ließ sie tanzen, wie das immer gewesen war. Früher einmal konnte man sich einen Hexenzauber wie diesen weg tanzen, und wenn man erwachte, war man gesund. Und tatsächlich war es auch diesmal so, dass gerade Kinder und junge Frauen nach drei oder vier Nächten, in denen Hühner für sie geschlachtet wurden, tatsächlich wieder mit der Zunge erwachten, die ihnen immer schon gehört hatte, und sprechen, ohne dass sich etwas kloßig anfühlte, und wieder frei lachen im Bewusstsein, dass einem die Zunge wieder gehörte wie die Arme oder die Beine oder

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