Voodoo Holmes - Holmes auf Haiti. Novelle
das Herz, das tagaus tagein pulsiert und den Brustkorb erschüttert, und man spürt dabei nichts Fremdes. Viele andere aber brachten Geschenke und brachten ihre Opfertiere und darunter manchmal sogar welche, die ihnen ganz nahe am Herzen waren. Und es wurde gemunkelt, dass einzelne sogar ihre Kinder der großen Mutter gaben, die sie schlachtete und ihnen das Blut, das in ihnen war, direkt auf die Zunge spritzte in der Hoffnung, die Zunge würde wieder die eigene Zunge. Denn so selbstverständlich es ist: Wer es erlebt hat, mit einer fremden Zunge im Mund auf zu wachen, kann das Gefühl nicht ertragen und opfert lieber sein Kind, als so fort zu leben. Es ist so schrecklich, dass es einem die Lebensfreude vergällt. Keiner aber von denen, die ohne ihre Kinder aus dem Sumpf zurück kehrten, waren geheilt.
Es dauerte nicht lange, da kamen einzelne Weiße in den Sumpf, um sich von der großen Mutter kurieren zu lassen. Diese war längst dazu übergangen, jedes Opfertier, das ihr gereicht wurde, mit einem Griff am Maul zu packen, die Zunge hervor zu ziehen und mit einem Haken an der Zunge an eine Vorrichtung zu hängen, bis die Zunge riss oder das Tier verendete. Während es sich mit allen Gliedern los zu reißen versuchte und durch die Luft pendelte und dabei quäkende, kreischende, winselnde Geräusche machte – die Hühner stießen einen schrillen, rauen Schrei aus und blieben an ihren kurzen, harten Zunge lange, lange flatternd haften – passierten mehr Heilungen als zu allen anderen Gelegenheiten. Manche, die stotterten, wurden davon gesprächig. Doch auch hier musste man sagen, dass die Mehrzahl der Menschen, die um Hilfe kamen, ohne Ergebnis wieder abziehen mussten. Sie stiegen auf die Schiffe und fuhren stumm oder mit speichelnden Mündern nach Europa zurück wie tollwütige Tiere und verbreiteten Schrecken dort in Lissabon, Rotterdam, Le Havre und Plymouth.
Eines Tages wachte die große Mutter auf und merkte, dass sich ihre Zunge anders anfühlte als sonst. Größer war, im Mund fast keinen Platz hatte. Als sie den Mund öffnete, strebte diese hervor wie bei einer Schlange. Und kaum hatte sie den Gedanken an eine Schlange gehabt, sah sie auch auf einer der Holzstege, die von ihrer Hütte weg führten, eine Schlange. Es war an der Schwelle zwischen der Sicherheit des Pfahlbaus, der sich aus dem Sumpf erhob, und dem Urwald. Die große Mutter verstand sofort, dass das ein Zeichen war. dass sie von der Schlange gerufen wurde. dass sie in das Zeichen der Schlange eintauchen musste. Das war die Botschaft, als sie dort eine Schlange sich ringeln sah. Und zwar auf eine ganz besondere Art. Es gab hier Schlangen, und unweigerlich, wenn sie den Schritt eines Menschen spürten, schlüpften sie zwischen die Hölzer hindurch ins Wasser. Diese Schlange aber hob den Kopf und schaute die große Mutter direkt an, wie ihr schien. Schlangen haben ihre Augen auf der Seite der Köpfe, also sollte man vielleicht genauer sagen, dass die Schlange ihren Kopf leicht schräg hielt und die große Mutter mit einem Auge ins Visier nahm. Es war neblig an diesem Morgen, und das Sumpfhaus der großen Mutter lag verlassen in der Landschaft. Es waren keine Menschen da an diesem Morgen, das erste Mal seit vielen Wochen. Man konnte nicht sagen, warum sie ausgeblieben waren. Vielleicht war ihnen der Weg zu beschwerlich geworden. Mehr und mehr Spinnennetze, die den Herbst ankündigten, überspannen die Wege, und die Lianen wurden morsch wie jedes Jahr vor der Regenzeit. Die große Mutter stand benommen vom Schlaf vor der Tür ihres Hauses und schaute auf die Schlange, und da erinnerte sie sich an ihren Traum. Es war der Traum von einem jungen Mann, der noch keinen Bart hatte. Er sah aus wie ein Indianer mit sehr heller Haut. Die große Mutter hätte ihn für einen Weißen halten können, aber es gab keine Weißen mit diesen Augen. Er musste von hier aus der Gegend sein, wo sich das Erbe aller Völker mischte, hier im Kreuzungspunkt der Segelschiffe. Hierher, wo hin man kam, wenn man zu Hause nicht mehr erwünscht war oder kein Zuhause mehr wünschte. Hier, wo jeder frei war, der den Siedlungen der Franzosen fern blieb. Und der Name des Mannes war Voodoo. Aber das Merkwürdige daran: Er hieß nicht nur Voodoo, sondern hatte einen englischen Namen. So ähnlich wie Horton.
Der Traum war der großen Mutter nicht mehr klar im Bewusstsein. Aber der Traum lebte in ihr noch, drückte ihr seinen Willen auf. Sie ging auf die Schlange zu, die
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