Voodoo
Kindern, deren Bauch so aufgedunsen war, dass sie breitbeinig gehen mussten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Im nächsten Haus sah es nicht viel besser aus, nur dass sich die Kinder hier gerade mit ihren Eltern zum Essen setzten: Es gab getrocknete Blätter, Erdkuchen und einen Eimer mit grünlichem Wasser. Max glaubte nicht, dass sie sich das tatsächlich in den Mund stecken würden, bis er mit eigenen Augen sah, wie ein kleines Mädchen von vielleicht fünf Jahren von der festgebackenen Erde abbiss und aß. Er musste würgen, aber er riss sich zusammen – teils aus Respekt vor diesen armen Teufeln, die nicht so viel zu essen hatten, wie er locker abnehmen könnte, ohne es zu vermissen. Teils, weil er fürchtete, sein Erbrochenes könnte den Weg in ihre Nahrungskette finden. Er wollte den Eltern alles Geld geben, das er bei sich trug, aber Chantale riet ihm davon ab und empfahl, ihnen besser Lebensmittel zu schenken.
In einem Geschäft in der Nähe kauften sie mehrere Säcke Mais, Reis, Bohnen und Kochbananen. Dann fuhren sie zurück zum Haus und stellten alles auf dem Vorplatz ab. Die Kinder und die Erwachsenen sahen ihnen neugierig zu und widmeten sich dann wieder ihrer Mahlzeit.
Max und Chantale fuhren weiter. Am späten Nachmittag hatten sie ihre Liste abgearbeitet. Sie hatten mit zwei älteren Damen gesprochen, die ihnen Limonade und alte Kekse angeboten hatten, mit einem Mann, der auf einer Veranda gesessen und eine ein Jahr alte Zeitung studiert hatte, mit einem Mechaniker und seinem Sohn, mit einer Frau, die sie gebeten hatte, ihr aus einer deutschen Bibel vorzulesen, einer anderen, die Max aus dem Fernsehen kannte und ihm sagte, er sei ein guter Mensch. Auch wenn er es noch nicht beweisen konnte, war sich Max doch ziemlich sicher, dass das Haus in Carrefour Eddie Faustin gehörte oder ihm irgendwann einmal gehört hatte.
Er brachte Chantale nach Hause und fuhr nach Carrefour zurück.
42
Max wartete den Einbruch der Dunkelheit ab, dann ging er zur Rückseite des Grundstücks, kletterte auf die Mauer und sprang in einen Garten mit totem Gras und verdorrten Büschen.
Er knackte die beiden Schlösser an der Hintertür und ging hinein.
Drinnen schaltete er seine Taschenlampe ein. Der Staub lag so dick, dass es aussah wie der Schnee auf einer Weihnachtskarte. Hier war schon lange niemand mehr gewesen.
Das Haus hatte zwei Stockwerke und einen Keller.
Er ging nach oben. Große Räume, üppig möbliert, alles von bester Qualität: Schränke, Anrichten, Kommoden, Tische und Stühle aus Mahagoni mit Klauenfüßen aus Messing. Couchtische aus Glas oder Marmor. Messingbetten, deren Matratzen noch fest waren, gut gepolsterte Sessel und Sofas.
In dem Haus war kaum gewohnt worden, aber wem immer es gehört hatte, er musste sich sicher gefühlt haben hier am Rande des Slums, wenige Meter entfernt von einem Kessel aus Armut, Verzweiflung und Gewalt. Keine Gitter an den Fenstern. Trotzdem war nicht eingebrochen worden. Max ging davon aus, dass die Besitzer hier aus diesem Viertel kamen, dass jeder im Slum sie kannte. Es mussten Leute sein, mit denen man sich nicht anlegte, deren Eigentum man mehr respektierte als das eigene.
Er ging hinunter in den Keller. Unten war es heiß und feucht, ein fauliger Geruch hing in der Luft. Im Lichtstrahl der Taschenlampe sah er die Feuchtigkeit an den Wänden, die Ziegelsteine sahen fettig aus vor Nässe. Da war etwas auf dem Fußboden.
Er fand den Lichtschalter. Eine einzelne Glühbirne, die an einem Kabel von der Decke hing, beleuchtete den großen schwarzen Vévé in Form eines Drachens auf dem Boden. Er war aus Blut gemalt und in vier Segmente unterteilt. In dreien davon war ein je unterschiedliches Symbol zu sehen, im letzten ein Foto. Ein Foto von Charlie, wie er auf dem Rücksitz eines Wagens saß, eines Geländewagens wahrscheinlich, und gerade in die Kamera schaute.
Er las den Vévé im Uhrzeigersinn: erst das Symbol von Tonton Clarinette, danach ein Auge, ein Kreis mit vier Kreuzen und einem Totenschädel in der Mitte, zuletzt das Foto. Im Zentrum des Vévé eine Blüte aus tiefrotem Wachs. Wenn dies Eddie Faustins Haus war, dann hatte er die Zeremonie aller Wahrscheinlichkeit nach durchgeführt, bevor er Charlie entführt hatte.
Max steckte sich das Foto in die Brieftasche.
Ansonsten war der Keller leer.
Er wollte schon wieder gehen, als ihm einfiel, dass er einiges noch nicht überprüft hatte. Er ging wieder nach oben. Der Staub lag so dick, dass seine
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