Voodoo
Schritte gedämpft wurden. Zweimal musste er niesen.
Er fand nichts.
Er klopfte die Wände ab. Solide. Schaute unter den Sesseln nach. Rückte die Möbel. Bei den schweren Schränken brach ihm der Schweiß aus.
Er schob einen Eichenschrank zur Seite.
Hörte etwas zu Boden fallen.
Eine Videokassette.
Zurück in Pétionville, legte er die Kassette ein.
Auf dem Bildschirm erschien ein Junge, der eine Straße entlanglief. Er trug die Uniform der Arche Noah – blaue Shorts und ein kurzärmeliges weißes Hemd – und einen Schulranzen auf dem Rücken. Max schätzte ihn auf sechs bis acht Jahre.
Er wurde aus einem Wagen heraus gefilmt.
Dann wurde der Bildschirm schwarz, es erschien ein neues Bild: eine Gruppe von vielleicht zwanzig Kindern, alle in Uniform, vor den Toren der Arche Noah. Die Kamera wanderte über die Kinder hinweg, die lachten und spielten. Manche spielten Fangen, andere standen zu zweit zusammen, wieder andere in Gruppen. Die Kamera fand den Jungen aus der ersten Einstellung wieder, er unterhielt sich mit zwei Freunden. Zoom auf sein Gesicht – eher süß als hübsch –, dann auf den Mund, der breit war und lächelte, dann wurde das Blickfeld wieder weiter, der Kopf und der Oberkörper und ein wenig vom Hintergrund waren zu sehen. Danach schwenkte die Kamera nach rechts, über die Schulter des Jungen hinweg, und nahm ein kleines Mädchen ins Visier, das sich gerade vorbeugte, um sich den Schuh zuzubinden. Ein Junge hatte ihr von hinten den Rock hochgehoben, er und seine Freunde lachten. Das Mädchen bemerkte die Jungen genauso wenig wie den Kameramann, der ihre Demütigung filmte. Als sie sich aufrichtete und der Rock wieder nach unten fiel, rannten die Jungen lachend weg.
Als Nächstes war der Junge im Klassenzimmer zu sehen, von draußen gefilmt, der Kameramann stand irgendwo links zwischen Büschen, deren Zweige immer wieder ins Bild geweht wurden. Der Junge lauschte dem Lehrer, machte sich Notizen, meldete sich oft. Er strahlte, wenn er eine Antwort wusste, es war eine Mischung aus Stolz und Glück, die sich auf seinen Zügen spiegelte. Wenn er aufgerufen wurde, lächelte er schon beim Sprechen und auch noch eine Weile danach, wenn er seinen Triumph auskostete. Er saß ganz vorn in der Klasse, ein strebsamer Schüler, reif und diszipliniert genug, um zu begreifen, wie wichtig das Lernen war und wie wertvoll eine Schulbildung. Wahrscheinlich stellte er nie irgendwelche Dummheiten an und hätte seine Eltern sehr stolz gemacht, hätten die ihn sehen können. Er hatte wache, kluge, forschende Augen, die über alles Bescheid wissen wollten, was sie sahen.
Plötzlich war nur noch Schnee auf dem Bildschirm, dann wurde er wieder schwarz. Und blieb es ziemlich lange.
Max ließ das Band laufen. Sein Herz raste, und er spürte dieses wohlvertraute Flattern im Magen, das er zuletzt in seinen Anfangstagen als Detective gehabt hatte, wenn er kurz davor gewesen war, eine üble Entdeckung zu machen. Ein Teil von ihm konnte es nicht abwarten, ein Teil fürchtete, was er da finden würde, ein Teil wusste, dass es schlimmer sein würde als alles zuvor. Am Anfang war es immer noch schrecklicher gewesen, als er sich hatte vorstellen können – wie weit ein menschliches Wesen zu gehen in der Lage war, um einem anderen die schlimmsten Qualen zu bereiten. Als er ins Gefängnis gegangen war, war er schon abgestumpft gewesen und immun, hatten die Grenzen seiner Fantasie bis in die tiefsten Tiefen der Hölle gereicht. Wenn er eine Leiche fand, die mit nur einer Kugel in den Kopf getötet worden war, hatte er den Mörder für ein Muster an Gnade und Mitgefühl gehalten – von all den Dingen, die er hätte tun können, hatte er den schnellsten und leichtesten Weg des Tötens gewählt.
Durch die Jahre im Knast fühlte sich vieles wieder an wie beim ersten Mal, ganz genau wie früher, als wäre es jemand anders gewesen, der damals in den abgegessenen Festgelagen der Monster nach Überresten gesucht hatte.
Der Bildschirm wurde weiß, dann ganz kurz blau, dann war eine ganz neue Umgebung zu sehen: ein Betongebäude von der Größe eines Flugzeughangars inmitten üppiger Vegetation. Max hielt das Band an und studierte das flackernde Bild. Es sah nicht aus, als wäre es irgendwo in Haiti. Um das Gebäude herum standen Bäume, alles war grün, das Land schien gesund und voller Lebenskraft.
Er drückte auf Play.
Die nächste Szene war in dem Gebäude aufgenommen. Eine geräumige Halle, durch hohe Fenster strömte
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