Voodoo
spätestens als er anfing zu laufen. Er war sehr viel verschlossener als normale Kinder.«
»Wie haben Sie sich gefühlt, als Sie das erfahren haben? Als man Ihnen die Diagnose sagte?«
»Am Anfang waren wir beide schockiert und durcheinander, aber …«
»Nein, ich spreche von Ihnen, wie haben Sie sich gefühlt?«
»Schlecht, am Anfang. Weil ich wusste, dass es viele Dinge gibt, die ich nie mit meinem Sohn würde machen können«, sagte Paul, und seine Stimme zitterte ganz leicht. »Aber so ist das Leben. Man kann nicht alles haben. Charlie ist mein Junge, mein Sohn. Ich liebe ihn. Das ist alles, was zählt.«
»Wie haben Sie das vor Gustav Carver geheim gehalten?«
»Mit einer großen Portion Glück und ein wenig Geschick. Außerdem ist Gustav auch nicht mehr der, der er mal war. Der Schlaganfall hat seinen Verstand in Mitleidenschaft gezogen. Aber lassen Sie mich eines über ihn sagen: Er liebt meinen Jungen mit jeder Faser seines gebrechlichen Körpers. Natürlich weiß er nicht, dass Charlie nicht von ihm ist, und schon gar nicht, dass er autistisch ist, aber lässt man das beiseite, war es wirklich herzerwärmend, die beiden zusammen zu sehen. Der alte Mann hat Charlie bei seinen ersten Schritten geholfen. Josie hat mir das Video gezeigt, das sie gemacht hatte, und sie meinte, es sei fast schade, dass der Junge nicht von ihm ist. Sie meinte, durch Charlie sei er ein besserer Mensch geworden. Ich glaube das nicht. Würde er die Wahrheit über meinen Jungen erfahren, er würde ihm eigenhändig das Gehirn aus dem Kopf prügeln.«
»Wenn das so ist, warum ist Francesca – oder Josie – nicht mit Charlie zu Ihnen gezogen?«
»Josie wollte nicht, dass Charlie in einer Welt wie der meinen aufwächst. Und sie hat recht. Eines Tages wird irgendjemand kommen und mir das Lebenslicht ausblasen, Mingus. Das weiß ich. Und ich will nicht, dass die beiden Menschen, die ich am meisten liebe, dabei ins Kreuzfeuer geraten.«
»Warum hören Sie nicht auf, schmeißen alles hin?«
»So ein Leben wie meines schmeißt man nicht hin. Es schmeißt einen hin.«
»Das ist wahr«, sagte Max. »Warum haben Sie überhaupt damit angefangen?«
»Ich wollte Josie zurück. Ich habe den schnellsten Weg gewählt, um zu genug Geld und Macht zu kommen, um es mit Carver aufnehmen zu können, wenn es sein musste. Ich habe mir angeschaut, wie das haitianische Militär kolumbianisches Kokain durchs Land schmuggelte, und ich habe gesehen, wie man das besser machen kann. Mehr möchte ich dazu nicht sagen.«
»Gab es keinen anderen Weg?«
»In zwanzig Jahren eine Milliarde Dollar zu verdienen? In Haiti? Nein.«
»Sie sind zumindest ehrlich, was Ihre Motive angeht. In zwanzig von zehn Fällen kriegt man von irgendwelchen Möchtegern-Mafiosi zu hören, dass sie in die Sache reingerutscht sind, weil, weißt du, wegen dem Viertel, in dem sie aufgewachsen sind, weil sie nie eine Chance hatten, weil ihre Mama ihren Arsch nie so geliebt hat wie der Freund der Mama. Gruppenzwang hier, gesellschaftliche und wirtschaftliche Verhältnisse dort. Blah blah blah. Das kriegt man andauernd zu hören. Aber Sie – von allen Geschichten, die Sie mir hätten auftischen können, erzählen Sie mir, Sie sind aus Liebe zum Drogenhändler geworden«, lachte Max. »Das ist echt unglaublich, Vincent. Und wissen Sie, was noch unglaublicher ist? Ich glaube Ihnen!«
»Schön, dass Sie es von der witzigen Seite sehen.« Vincent fixierte Max aus den Tiefen seiner tiefliegenden Augen, und auf seinen Lippen lag ein leises Lächeln. »Ich lasse Sie heute Abend wieder auf die Menschheit los. Falls Allain Sie fragen sollte, wo Sie gesteckt haben, bei mir waren Sie nicht, klar?«
»Klar.«
»Gut. Und jetzt weiter im Text.«
46
Max wurden die Augen verbunden, und man setzte ihn auf die Rückbank eines Geländewagens. Die Fahrt nach Pétionville war recht lang, eine ganze Weile ging es auf holprigen Straßen bergauf, was Max vermuten ließ, dass Pauls Versteck in den Bergen lag. Zwei Leute saßen mit ihm im Wagen: Vincent Paul und der Fahrer. Es wurde ausgiebig auf Kreolisch geplaudert und viel gelacht.
Im Geiste ließ Max das Gespräch mit Paul noch einmal Revue passieren, angefangen bei der Wahrheit über Charlies Vater, die er noch immer nicht ganz verdaut hatte. Er hatte nicht daran gezweifelt, dass es stimmte, nachdem er das Foto von Vincent und seinem Vater gesehen hatte. Charlie hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit dem jungen Vincent, aber er kam eindeutig nach
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