Voodoo
er vermisste seine Zelle und die Sicherheit des Altbekannten. Eine Frau, die im Schneidersitz vor einem Paar zerrissener, abgelaufener Turnschuhe auf dem Boden saß, sprach ihn an. Er zuckte mit den Achseln und drehte die offenen Handflächen nach oben, ein Zeichen der Hilflosigkeit. Da war Besorgnis in seinem Gesicht, eine erwachende Angst. Wenn nur die Ganoven und die harten Jungs ihn jetzt sehen könnten, in die Ecke getrieben von der freien Welt, sein Bluff aufgedeckt vom echten Leben. Max spielte mit dem Gedanken, den guten Samariter zu spielen und ihn in die Stadt mitzunehmen, aber er ließ es bleiben. Falsche Assoziation. Er war im Knast gewesen, aber er betrachtete sich nicht als Kriminellen.
Anscheinend hatte Chantale seine Gedanken gelesen.
»Er wird abgeholt«, sagte sie. »Die werden einen Wagen für ihn schicken, wie wir für Sie.«
»Wer sind ›die‹?«
»Hängt davon ab, welches Verandagetratsche man gerade gehört hat. Manche Leute sagen, dass hier ein Kriminellenkollektiv der Heimkehrer operiert, eine Art Syndikat. Jeder, der aus einem US-Gefängnis herkommt, wird abgeholt und in die Gang aufgenommen. Andere Leute meinen, das sei Blödsinn, und dass es in Wirklichkeit Vincent Paul ist.«
»Vincent Paul?«
» Le Roi de Cité Soleil – der König von Cité Soleil. Cité Soleil ist der größte Slum des Landes. Liegt direkt neben Portau-Prince. Es heißt, wer über Cité Soleil herrscht, herrscht über Haiti. Alle Regierungswechsel haben da ihren Anfang genommen – auch der Sturz von Jean-Claude Duvalier.«
»Und da steckte Paul dahinter?«
»Die Leute erzählen alles Mögliche. Es wird sehr viel geredet hier. Manche Leute machen nichts anderes. Reden ist so eine Art Nationalsport. Liegt wohl an der wirtschaftlichen Lage: keine Jobs, nicht genug zu tun. Mehr Zeit als Ziele. Sie werden das noch merken«, sagte Chantale und schüttelte den Kopf.
»Wie komme ich an Vincent Paul heran?«
»Wenn, dann kommt er zu Ihnen«, sagte Chantale.
»Meinen Sie, das wird er?«, fragte Max und musste an Beeson denken. Hatte Chantale auch vom Flughafen abgeholt? Wusste sie, was mit ihm passiert war?
»Wer weiß das schon? Vielleicht steckt er dahinter, vielleicht auch nicht. Er ist nicht der Einzige, der die Carvers hasst. Sie haben viele Feinde.«
»Hassen Sie sie auch?«
»Nein«, sagte Chantale lachend und sah Max in die Augen. Schöne Augen hatte sie, Rehaugen, und ein vielversprechendes Lachen: laut und heiser, vulgär und rauchig und unwiderstehlich dreckig. Das Lachen einer Frau, die sich betrank und bekiffte und vollkommen Fremde vögelte.
Sie fuhren los.
8
Die Straße, die vom Flughafen wegführte, war lang, staubig und milchig grau. Risse, Sprünge und Spalten hatten ein grobes Gitternetz über den Belag gelegt, das hier und da in willkürlich verstreuten Schlaglöchern und Kratern unterschiedlichster Größe und Tiefe zusammenlief. Es war ein Wunder, dass der Asphalt sich nicht längst in Wohlgefallen aufgelöst und die Straße sich wieder in einen Schotterweg zurückverwandelt hatte.
Chantale war eine sichere Fahrerin, sie umkurvte die größten Schlaglöcher und ging vom Gas, wenn sie durch die kleineren fahren musste. Die Autos vor ihnen und auf der Gegenspur bewegten sich genauso wie sie, manche waren wie klassische Trunkenheitsfahrer unterwegs, mit noch dramatischeren Schlenkern als die anderen.
»Zum ersten Mal in Haiti?«, fragte sie.
»Ja. Ich hoffe, es ist nicht alles so wie der Flughafen.«
»Es ist schlimmer«, sagte sie und lachte. »Aber wir schlagen uns durch.«
Es gab scheinbar nur zwei Wagentypen in Haiti: Luxuskarosse oder Schrottkarre. Max sah Mercedes, BMW, Lexus und jede Menge Jeeps. Und eine Stretchlimousine. Einen Bentley, gefolgt von einem Rolls Royce. Doch auf jeden Luxuswagen kamen Dutzende verrosteter, qualmender Laster, auf deren Ladeflächen sich die Menschen drängten, manche hingen an den Seiten oder klammerten sich auf dem Dach fest. Und alte, grellbunt bemalte Kombis mit Schriftzügen oder Bildern von Heiligen oder Feldarbeitern auf den Türen. Taxis, erklärte Chantale, Tap-Taps genannt. Auch die waren voller Menschen, das Gepäck auf dem Dach festgebunden: voll gestopfte Körbe, Pappkartons und Stoffbündel. Für Max sah es aus, als seien die Leute auf der Flucht vor einer Naturkatastrophe.
»Sie werden in einem Haus der Carvers in Pétionville wohnen, einem Vorort von Port-au-Prince, eine halbe Stunde entfernt. In der Hauptstadt ist es im Moment zu
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