Voodoo
diese alte Frau in einem rosa Kleid, sie saß auf der anderen Straßenseite vor dem Flickschuster und hat mich angestarrt.«
»Sie saß wo?«
»Vor dem Flickschuster … dem Schuhmacher«, erklärte sie.
»Was haben Sie dann getan?«
»Ich bin zum Wagen gelaufen. Er lag auf dem Dach. Die Straße war verlassen. Überall war Blut.«
»Waren Sie schwer verletzt?«
»Nur eine Gehirnerschütterung. Ein paar Prellungen und Schnittwunden. Rose war tot, Faustin verschwunden. Genau wie mein kleiner Junge«, sagte sie und senkte den Kopf.
Sie fing an zu weinen. Erst leise fließende Tränen, dann Schniefen, dann der Dammbruch.
Max hielt den Rekorder an und ging ins Bad, um Toilettenpapier zu holen. Er reichte es ihr, setzte sich hin und sah zu, wie sie sich ausweinte. Er nahm sie in den Arm, was ihr über das Schlimmste hinweghalf. Er fand sie jetzt gar nicht mehr so schlimm, und er war sich sicher, dass das auf Gegenseitigkeit beruhte. Sie hatte gar keine andere Wahl.
»Ich koche uns Kaffee«, sagte Francesca und stand auf.
Er lehnte sich zurück und sah zu, wie sie einen Espressokocher aus Stahl und eine runde Dose aus einem der Hängeschränke mit den Glastüren holte. Die Küche war in einem glänzenden Cremegelb gestrichen, leicht sauber zu halten.
Francesca füllte Wasser aus der Flasche und Kaffeepulver in die Kanne und stellte sie auf den Herd. Dann ging sie zum nächsten Schrank, holte zwei Tassen und Untertassen heraus und wischte sie mit einem Handtuch aus, das auf dem Kühlschrank lag. Es schien ihr Freude zu bereiten, ein winziges Lächeln hatte sich auf ihre Lippen geschlichen und ließ sogar ihre Augen ein klein wenig leuchten. Max vermutete, dass sie ein Leben ohne Dienstboten vermisste.
Er sah auf die Uhr. 4:15 Uhr. Draußen war es noch dunkel, aber im Garten waren schon die ersten Vögel im Wettstreit mit den Insekten zu hören. Um acht würde Chantale hier sein. Zu spät zum Schlafengehen. Er würde eine Nacht aussetzen müssen.
Mit einem leisen Pfeifen fing der Kaffee an zu kochen. Francesca goss ihn in eine Thermoskanne und brachte sie mit den Tassen, Untertassen und Löffeln, einem Milchkännchen und einer Zuckerschale auf einem Tablett zum Tisch. Max probierte den Kaffee. Es war der gleiche, den er in Carvers Club getrunken hatte. Vermutlich die selbst angebaute Hausmarke der Familie.
Sie saßen in fast vollkommener Stille da. Max lobte ihren Kaffee. Sie rauchte erst eine, dann noch eine Zigarette.
»Mrs. Carver …?«
»Sagen Sie doch Francesca.«
»Francesca. Was um alles in der Welt hat Sie dazu gebracht, an diesem Tag mit Ihrem Sohn nach Port-au-Prince zu fahren?«
Max drückte den Pausenknopf des Rekorders.
»Wir hatten einen Termin.«
»Bei wem?«
»Bei einem Mann namens Filius Dufour. Nun, er ist kein normaler Mann, er ist ein Houngan – ein Voodoo-Priester.«
»Sie sind mit Charlie an seinem Geburtstag zu einem Voodoo-Priester gefahren?«, fragte Max, und es klang überraschter, als er es meinte. Die einheimische Religion war im Haushalt der Carvers fest verwurzelt. Er erinnerte sich, wie verständnisvoll sich Allain darüber geäußert hatte.
»Ich war schon seit sechs Monaten einmal die Woche mit ihm bei Filius gewesen.«
»Warum?«
»Filius hat uns geholfen. Charlie und mir.«
»Wie?«
»Wie viel Zeit haben Sie?«
»So viel Sie brauchen«, sagte Max.
Francesca warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Max prüfte die Kassette. Sie fasste 120 Minuten, und die erste Seite war fast voll. Er spulte vor und drehte sie um. Als sie anfing zu sprechen, drückte er den Aufnahmeknopf.
»Charlie wurde am 4. September 1991 in Miami geboren. Eine der Krankenschwestern hat gekreischt, als sie sein Gesicht sah. Er sah aus, als wäre er mit einer rabenschwarzen Glückshaube auf die Welt gekommen, aber es waren nur seine Haare. Er ist mit vollem Haar geboren worden. Das kommt vor.
Drei Wochen später waren wir wieder in Haiti. Damals war Aristide an der Macht – eine Art Mafia-Herrschaft, die sich als Regierung ausgab. Viele Menschen haben das Land verlassen. Nicht nur die Bootsflüchtlinge, auch die Reichen und die Geschäftsleute. Gustav hat darauf bestanden, hierzubleiben, obwohl Aristide uns zweimal in öffentlichen Ansprachen namentlich genannt hatte als Weiße, die den armen schwarzen Haitianern alles ›gestohlen‹ hätten. Gustav wusste, dass Aristide sich nicht mehr lange an der Macht halten würde. Er war mit ein paar Militärs befreundet und mit einigen von Aristides
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