Vor aller Augen
Tuletti war aus einem Apartment in San Antonio entführt worden, wo drei Mädchen angeblich von Prostitution lebten. Die Nachbarn in der Wohnanlage sagten aus, sie hätten zwei verdächtig aussehende Leute â einen Mann und eine Frau â das Gebäude an dem Tag betreten sehen, an dem Adrianne verschwand. Ein Nachbar glaubte, es seien vielleicht die Eltern des Mädchens, die gekommen seien, um die Tochter heimzuholen. Doch von dem Mädchen gab es seither kein Lebenszeichen mehr.
Ich betrachtete ihr Foto. Sie war hübsch, blond und hätte eine von Elizabeth Connollys Töchtern sein können. Ihre Eltern waren Grundschullehrer in Childress.
An diesem Nachmittag bekam ich noch weitere schlechte Nachrichten. Eine Modedesignerin namens Audrey Meek war aus der King of Prussia Mall in Pennsylvania entführt
worden. Ihre beiden kleinen Kinder waren Augenzeugen des Verbrechens. Diese Information verblüffte mich. Die Kinder hatten bei der Polizei ausgesagt, dass die Entführer ein Mann und eine Frau gewesen seien.
Ich machte mich bereit, nach Pennsylvania zu fahren. Ich rief Nana an, und zur Abwechslung war sie verständnisvoll. Dann erhielt ich die Nachricht aus Nooneys Büro. Ich würde nicht nach Pennsylvania fahren. Man erwartete mich im Unterricht.
Offenbar war diese Entscheidung von ganz oben gekommen. Ich begriff nicht, was da vor sich ging. Vielleicht sollte ich das auch nicht.
Vielleicht war das alles ein Test?
27
» Wissen Sie, was man über Sie sagt, Dr. Cross? Dass Sie über nahezu hellseherische Fähigkeiten verfügen. Vielleicht sogar medial begabt sind. Sie können wie ein Mörder denken.« Genau das hatte Monnie Donnelley heute Vormittag zu mir gesagt. Warum hatte man mich von diesem Fall abgezogen, wenn das zutraf?
Nachmittags besuchte ich den Unterricht, war jedoch unkonzentriert und verärgert. Irgendwie hatte ich Angst: Was hatte ich beim FBI zu suchen? Was wurde aus mir? Ich wollte nicht gegen das System in Quantico kämpfen, aber man hatte mich in eine unmögliche Situation gebracht.
Am nächsten Morgen musste ich mich wieder auf meine
Unterrichtsfächer vorbereiten: »Jura«, »Verbrechen von Schreibtischtätern«, »VerstöÃe gegen die Menschenrechte«, »SchieÃübung«.
Ich war sicher, dass ich »VerstöÃe gegen die Menschenrechte« interessant finden würde, aber da drauÃen waren zwei vermisste Frauen: Elizabeth Connolly und Audrey Meek. Vielleicht war eine â oder sogar beide â noch am Leben. Vielleicht konnte ich helfen, sie zu finden â wenn ich denn so ein gottverdammt begnadeter Hellseher war.
Ich hatte mein Frühstück mit Nana und der Katze Rosie am Küchentisch gerade beendet, als ich das Plopp der Zeitung auf der vorderen Veranda hörte.
»Bleib sitzen und iss weiter. Ich hole sie«, sagte ich zu Nana und schob den Stuhl zurück.
»Keine Einwände«, erwiderte Nana und trank einen Schluck Tee mit der Grazie einer alten Dame. »Du weiÃt ja, ich muss meine Kräfte schonen.«
»Stimmt.«
Nana hielt immer noch jeden Fleck im Haus peinlich sauber und kochte die meisten Mahlzeiten. Vor kurzem hatte ich sie erwischt, wie sie auf einer Leiter stand und die Dachrinnen säuberte. »Kein Problem«, rief sie mir zu. »Mein Gleichgewicht ist hervorragend und ich bin so leicht wie ein Fallschirm.« Tja, da kann man nichts machen.
Die Washington Post hatte die Veranda nicht erreicht, sondern lag halb geöffnet auf dem Bürgersteig. Ich musste mich nicht einmal bücken, um die Titelseite zu lesen.
»Verdammt noch mal«, stieà ich hervor.
Das war nicht gut. Das war schlimm. Ich konnte kaum glauben, was ich da las.
Die Schlagzeile war schockierend: MÃGLICHE VERBINDUNG ZWISCHEN DER ENTFÃHRUNG ZWEIER FRAUEN. Schlimmer war, dass in dem Artikel sehr spezifische
Details standen, die nur wenige Mitarbeiter des FBI kannten. Unglücklicherweise war ich einer davon.
Der Schlüssel des Berichts war, dass darin etwas über ein Paar stand â einen Mann und eine Frau -, die man bei der letzten Entführung in Pennsylvania gesehen hatte. Mein Magen verkrampfte sich. Die Augenzeugenaussage der Kinder von Audrey Meek, war eine Information, die wir auf keinen Fall an die Presse hatten weitergeben wollen.
Jemand hatte der Post diese Informationen gesteckt â ein Leck beim FBI. AuÃer vielleicht Bob Woodward
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