Vor aller Augen
hätte das niemand bei der Zeitung selbst geschafft. So clever waren sie nicht.
Wer hatte die Informationen an die Post weitergegeben?
Warum?
Es ergab keinen Sinn. Wollte jemand die Ermittlungen sabotieren? Wer?
28
An diesem Morgen begleitete ich Jannie und Damon nicht zur Schule. Ich saà mit der Katze im Wintergarten und spielte Klavier: Mozart, Brahms. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich nicht früher aufgestanden war und in der Suppenküche von St. Anthonyâs half. Das tat ich üblicherweise mehrmals die Woche, oft sonntags. Meine Kirche.
Der Verkehr war schrecklich und frustrierend. Ich brauchte bis Quantico fast anderthalb Stunden. Ich stellte mir vor, wie Nooney am Eingangstor stand und ungeduldig
auf mich wartete. Die Fahrt gab mir zumindest Zeit, meine gegenwärtige Situation zu überdenken. Ich entschied, dass es im Moment das Beste war, den Unterricht mitzumachen und den Kopf tief zu halten. Wenn Direktor Burns mich beim Fall »WeiÃes Mädchen« wollte, musste er mir Bescheid geben. Wenn nicht, auch gut.
Heute Morgen drehte sich der Unterricht um das, was das FBI »praktische Anwendung« nannte. Wir sollten in einem fiktiven Bankraub in der Hogans Alley ermitteln und dazu Zeugen und Angestellte befragen. Instrukteurin war eine sehr fähige Agentin, die Marilyn May hieÃ.
Nach einer halben Stunde dieser Ãbung teilte Agentin May der Klasse mit, dass es ungefähr eine Meile von der Bank entfernt einen Autounfall gegeben hätte. Wir marschierten als Gruppe los, um den Unfall zu untersuchen und herauszufinden, ob er in irgendeiner Verbindung zu dem Banküberfall stand. Ich war aufmerksam, aber während der letzten zwölf Jahre war ich mit tatsächlichen Ermittlungen bei solchen Fällen befasst gewesen, daher fiel es mir schwer, diese Ãbung allzu ernst zu nehmen, zumal einige meiner Klassenkameraden die Befragungen genau nach dem Handbuch durchführten. Mir kam der Gedanke, dass sie vielleicht zu viele Polizeifilme im Fernsehen gesehen hatten. Auch Agentin May schien zuweilen amüsiert zu sein.
Ich stand am Unfallort mit einem neuen Mitstreiter, der Captain in der Armee gewesen war, ehe er zum FBI wechselte. Da hörte ich, wie jemand meinen Namen sagte. Ich drehte mich um und sah Nooneys Verwaltungsassistenten. »Senior Agent Nooney möchte Sie in seinem Büro sprechen«, erklärte er.
O Gott! Was jetzt? Der Kerl ist verrückt! , dachte ich, als ich zur Verwaltung marschierte. Ich eilte die Treppe hinauf, wo Nooney wartete.
»SchlieÃen Sie bitte die Tür«, sagte er. Er saà hinter einem zerkratzten Schreibtisch und machte eine Miene, als sei ein naher Angehöriger gestorben.
Mir wurde furchtbar heià unter dem Kragen. »Ich bin mitten in einer Ãbung.«
»Ich weiÃ, was Sie tun. Ich habe schlieÃlich das Programm und den Stundenplan geschrieben«, entgegnete er. »Ich möchte mit Ihnen über die Titelseite der heutigen Ausgabe der Post sprechen«, fuhr er fort. »Haben Sie sie gesehen?«
»Ja, habe ich.«
»Ich habe heute Morgen mit Ihrem früheren Chef gesprochen. Er sagte mir, dass Sie früher öfter die Post benutzt haben. Er meinte, Sie hätten dort Freunde.«
Ich gab mir Mühe, nicht die Augen zu verdrehen. »Ich hatte früher einen guten Freund bei der Post . Er wurde ermordet. Jetzt habe ich dort keine Freunde mehr. Warum sollte ich Informationen über die Entführungen weitergeben? Was würde ich dadurch gewinnen?«
Nooney deutete mit dem Finger auf mich und hob die Stimme. »Ich weiÃ, wie Sie arbeiten. Und ich weiÃ, worauf Sie aus sind â Sie wollen sich nicht in ein Team eingliedern oder auf irgendeine andere Weise kontrolliert oder beeinflusst werden. Nun, so läuft das nicht. Wir halten nichts von Goldjungen oder Sondersituationen. Wir halten Sie nicht für kreativer oder fantasiebegabter als irgendeinen anderen in Ihrer Klasse. Gehen Sie jetzt zurück zu Ihrer Ãbung, Dr. Cross. Und handeln Sie ab jetzt klüger.«
Ohne ein weiteres Wort verlieà ich das Büro. Ich kochte vor Wut, als ich zu der gestellten Unfallszene zurückkehrte, die Agentin Marilyn May feinsäuberlich mit dem vorgetäuschten Banküberfall in der Hogans Alley verknüpft hatte. Was für ein Programm hatte Nooney da zusammengeschrieben!
Ich hätte es im Schlaf besser machen können. Und ja, jetzt war ich stinkwütend.
Weitere Kostenlose Bücher