Vor aller Augen
Das war das kürzeste Telefonat, das wir je geführt haben. Wahrscheinlich auch das frustrierendste und unangenehmste. Ich hatte eines meiner berühmten Gefühle.«
»Also, was ist los, Pfadfinder? Ist es der Job oder etwas anderes? Geht es um mich, Alex? Du kannst es mir sagen. Aber ich muss dich warnen, ich trage eine Waffe.«
Ich lachte über ihren Scherz. Dann holte ich tief Luft und lieà langsam alles raus. »Christine Johnson ist wieder in der Stadt. Und es wird noch schlimmer. Sie ist wegen Klein Alex gekommen. Sie will ihn mir wegnehmen, wahrscheinlich mit nach Seattle.«
Ich hörte, wie sie die Luft einsog. »Oh, Alex, das ist ja schrecklich. Entsetzlich. Hast du mit ihr geredet?«
»Selbstverständlich. Ich war heute Nachmittag bei ihrer Anwältin. Christine fällt es schwer, hart zu sein, ihrer Anwältin nicht.«
»Alex, hat Christine euch beide zusammen gesehen? Wie du mit ihm umgehst? Wie in dem alten Film, Kramer gegen Kramer . Dustin Hoffman und der niedliche kleine Junge.«
»Nein, sie hat uns nicht wirklich zusammen gesehen,
aber ich habe sie mit Alex gesehen. Er hat seinen Charme versprüht und sie ohne Vorwürfe willkommen geheiÃen. Der kleine Verräter.«
Jetzt war Jamilla empört. » Typisch Klein Alex. Immer der perfekte Gentleman. Wie sein Vater.«
»Ja, und auÃerdem â sie ist seine Mutter. Die beiden haben eine gemeinsame Geschichte, Jam. Es ist kompliziert.«
»Nein, ist es nicht. Nicht für mich oder jemanden mit einem Funken Verstand. Sie hat ihn verlassen, Alex. Sie ist dreitausend Meilen weit weggezogen und ein Jahr geblieben. Wer weiÃ, ob sie das nicht wieder macht? Und was wirst du jetzt tun?«
Das war die groÃe Frage.
»Was denkst du? Was würdest du tun?«
Jam unterdrückte ein Lachen. »Ach, du kennst mich â ich würde sie wie der Teufel bekämpfen.«
Ich musste lächeln. »Das werde ich auch tun. Ich werde Christine wie der Teufel bekämpfen.«
73
Die Telefonate waren für diesen Abend noch nicht beendet. Kaum hatte ich mich von Jamilla verabschiedet, fing der verdammte Apparat wieder an zu klingeln. War das etwa Christine? Ich wollte jetzt wirklich nicht über Klein Alex sprechen. Was würde sie zu mir sagen â was konnte ich ihr sagen?
Das Telefon hörte nicht auf zu klingeln. Ich schaute auf
meine Armbanduhr. Es war nach Mitternacht. Was jetzt? Ich zögerte, dann nahm ich ab.
»Alex Cross«, sagte ich.
»Alex. Hier ist Ron Burns. Tut mir Leid, dass ich Sie so spät noch anrufe. Ich fliege gerade von New York nach Washington. Wieder eine Konferenz zum Kampf gegen den Terrorismus, was immer das zurzeit auch bedeutet. Niemand scheint genau zu wissen, wie man diese Wichser bekämpft, aber jeder hat eine Theorie.«
»Vielleicht sollte man nach deren Regeln spielen. Selbstverständlich würde das einigen Leuten nicht behagen«, sagte ich. »Und mit Sicherheit ist es weder politisch noch gesellschaftlich korrekt.«
Burns lachte. »Sie kommen gleich auf den Punkt«, sagte er. »Und Sie halten mit Ihren Ideen nicht hinterm Berg.«
»Apropos Ideen...«
»Ich weiÃ, dass Sie sauer sind«, sagte Burns. »Nach dem, was passiert ist, kann ich Ihnen das nicht übel nehmen. Beim FBI geht es manchmal drunter und drüber. Man hat Sie gewarnt. Sie müssen etwas begreifen, Alex. Ich bemühe mich, einen sehr schwerfälligen Ozeandampfer zu wenden. Auf dem Potomac. Vertrauen Sie mir noch ein Weilchen länger. Ãbrigens, wieso sind Sie noch in Washington und nicht in New Hampshire?«
Ich begriff nicht. »Was ist denn in New Hampshire? Oh, ScheiÃe, sagen Sie es nicht!«
»Wir haben einen Verdächtigen. Das hat man Ihnen wohl nicht gesagt, oder? Ihre Idee, die Gespräche im Wolfsbau im Internet zu verfolgen, hat funktioniert. Wir haben jemanden.«
Ich konnte nicht fassen, was ich da nach Mitternacht hörte. »Niemand hat mir etwas gesagt. Ich bin zu Hause, seit ich mein Büro verlassen habe.«
Schweigen am anderen Ende. Dann: »Ich werde einige Telefonate führen. Steigen Sie morgen früh in ein Flugzeug. In New Hampshire wird man Sie erwarten. Glauben Sie mir, man wird Sie erwarten. Und, Alex, vertrauen Sie mir noch ein bisschen länger.«
»Ja, werde ich.« Ein bisschen länger.
74
Es klang äuÃerst unwahrscheinlich und seltsam, aber ein am
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