Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
zu halten. Als ich sie nun auf der Bühne erlebte, begriff ich, warum der Wirt sie derart verfluchte. Eva Booth war schlichtweg bezaubernd, und sie schien sich ihrer Wirkung – als Predigerin wie als Frau – durchaus bewusst zu sein.
»Ihr müsst den Glauben zur Tat werden lassen«, rief sie freudig und drehte sich wie ein Kreisel um die eigene Achse. »Wenn ihr an den Erlöser glaubt, werdet ihr nicht länger den Götzen dienen können. Nicht dem Alkohol und nicht der Hurerei. Nicht der Unzucht und nicht dem Verbrechen. Wenn ihr an Jesus glaubt, werdet ihr bessere Menschen sein, und das Himmelreich wird euch ohne Wenn und Aber offenstehen. Allein durch euren Glauben.«
»Das begreife ich nicht!«, entfuhr es mir wider Willen. Ich hatte aufmerksam und wie paralysiert zugehört und mich dabei der schmalen Stiege genähert, die zum Podest hinaufführte. »Wie kann der bloße Glaube irgendetwas verändern? Wenn ich glaube, dass es morgen regnet, bedeutet das noch lange nicht, dass es tatsächlich regnet. Wie kann der Glaube Berge versetzen? Das klingt zwar tröstlich, aber es will mir nicht in den Kopf.«
»Dann benutze dein Herz!«, erwiderte Eva Booth, kam mir ganz nahe und legte ihre Hand auf meine Schulter. »Der Glaube ist keine Sache des Kopfes, sondern des Herzens. Du musst ihn fühlen, mein Bruder!«
Bei der Berührung durchzuckte es mich, und für einen kurzen Moment hatte ich das Bedürfnis, ihre Hand zu ergreifen, doch dann wich ich unsicher zurück, nahm den Schlapphut vom Kopf und zog mir den Schal aus dem Gesicht.
Eva Booth strahlte, hielt mir ihre Fackel vors Gesicht und erstarrte im nächsten Augenblick. »Satan!«, zischte sie leise und schnellte in die Höhe.
Ich verstand nicht, was oder wen sie damit gemeint hatte, und schaute mich um, doch direkt hinter mir standen nur die vermummten Skeletons, die auf den Befehl des Losschlagens warteten.
Eva Booth fuhr scheinbar unbeirrt in ihrer Predigt fort, doch sie mied meinen Blick und richtete ihre Augen zum Himmel, als wüsste sie, dass in Kürze der Sturm losbrechen würde.
»Zur Tat, Männer!«, erklang nun eine laute Stimme vom Dach des Ten Bells. Und im selben Moment brachen alle Dämme. Steine flogen, Farbbeutel und Kalklappen landeten klatschend auf den Leuten, Banner und Totenkopf-Fahnen wurden entrollt, und die Ratten sprangen fiepend und wild um sich beißend aus ihren geöffneten Käfigen. Die Menschen schrien vor Schmerz oder Wut und versuchten, dem Tumult zu entkommen, doch es gab kein Entrinnen. Binnen weniger Sekunden verwandelte sich die Versammlung in ein wüstes Chaos, in dem sich die eine Seite von vornherein auf verlorenem Posten befand.
Nur ich stand wie angewurzelt da und bewegte mich nicht. Die Ratten in meinem Käfig hatte ich nicht freigelassen, und als mich die kalkgetränkten Lumpen an der Schulter trafen, spürte ich es kaum. Ich blickte hinauf zum Podest, wo Eva Booth ebenso regungslos auf das Tohuwabohu schaute. Steine und Farbbeutel flogen, doch sie duckte sich nicht und machte keine Anstalten, sich von ihrem gefährlichen Podestplatz fortzubewegen. Es hatte beinahe den Anschein, als wollte sie sich und den Umstehenden etwas beweisen.
Doch dann traf sie ein Stein an der Stirn. Sie schwankte hin und her, ging einen Schritt auf die Leiter zu und ließ die Fackel fallen. Ich sprang aufs Podest, um ihren Sturz abzufangen, doch im nächsten Augenblick hatte sie das Gleichgewicht wiedergefunden und fuhr sich verwirrt mit der Hand über das blutverschmierte Gesicht.
»Kommen Sie!«, rief ich und reichte ihr die Hand.
Doch statt meine Hand zu ergreifen, starrte sie mich – wie vorhin schon einmal – wutentbrannt und beinahe angewidert an und schlug mir mit der flachen Hand ins Gesicht, sodass ich nach hinten fiel und rücklings vom Rand des Podests aufs Pflaster stürzte. Dummerweise hatte ich den Rattenkäfig direkt vor der Stiege auf der Straße stehen lassen, und als ich nun auf dem Weidenkorb landete, brach der Käfig, und die bissigen Ratten stürzten sich auf mich. Sie bissen mir ins Gesicht und in die Hände, ein besonders aggressives Biest kroch mir in das linke Hosenbein und verbiss sich in meiner Wade. Doch der Schmerz, den ich deswegen verspürte, war gering im Vergleich zu dem Schmerz, der mir bei der Ohrfeige durch die Glieder geschossen war. Während ich mich der Ratten zu entledigen versuchte, wobei Simeon mir nach Leibeskräften half, schaute ich zum Podest hinauf. Doch die Bühne war verwaist, die
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