Vor dem Fest
Jäger wisse er das. Er glaube, daß es sich darob wohl um ein sehr altes Exemplar handeln müsse, Tausende Jahre alt, aus jener Zeit der dichten Wälder und des großen Moors, da auch Bären, Krokodile und wer weiß welcherlei Getier noch, ihre Reviere in der Mark hatten. Indes dachte er darüber nach, ob mit den Hörnern gar ein paar Thaler zu verdienen wären, sie seien eigentümlich gut erhalten. Gern behielte er sie selbst, doch Lisbeth sähe sich ungern aus toten Augen angestarrt.
Im zweiten Brief beschreibt Hr. v. Blankenburg, nicht ohne Erregung, welche sich in Schriftbild und Wortwahl mitteilt, den zweiten unerhörten Fund. Er habe einige verzagte und untüchtige Tagelöhner bei der Rodung des verwilderten Feldes am Geherschen Gehöft unterstützt, da stieß einer von ihnen im Boden auf einen merkwürdig großen Knochen. Mitnichten ein Knochen, beschied der Graf, wiederum ein Stück Horn war dies, helle in der Erde wie etwas von einer anderen Welt. Die Tagelöhner, das abergläubische Lumpenpack, hätten sich geweigert, das Horn anzufassen. Also nahm der Graf die Bergung auf sich, was ihm recht zur Qual geraten, da die Wunde in seiner Hand geschwollen war und ihn arg schmerzte. Nach viel Müh grub er das zweite Geweih aus, gewaltiger und herrlicher als jenes erste. Einem Hirschen mit solcher Krone, schrieb er dem Freunde, wäre er unbewehrt wahrlich ungern begegnet!
Vier Tage nach dem Fund verstarb Poppo von Blankenburg an den Folgen des Wundbrandts in seinem Handballen. Die Witwe ließ die Hörner, welche sie Düvelshörner genannt, unverzüglich aus dem Haus entfernen, also daß Hr. Bruno Bredenkamp sich derer annehme, derselbe uns die Hirschgeweihe großzügig überließ, so geschehen in Dresden, am 2. Mai 1849.
FÜR ALLES, WAS HIER WÄCHST, STEHT UND UNTERGEHT, HAT FRAU KRANZ SCHON MAL DEN FARBTON GEFUNDEN. Klassiker sind die Kirche, die Stadtmauer, das Fährhaus und die Seen. Aus jeder erdenklichen Perspektive. Auch von Fontanes ödem Grün ist einiges an Abstufung dabei: Wiesen, Gärten, Äcker, von Mohnblumen bis Zuckerrüben, nach Zartheit sortiert, zuletzt der Kiecker, der alte Wald.
Frau Kranz’ Namen kennt im Dorf jeder, der alt genug ist, Namen zu kennen. So viele von ihnen und so viel von ihnen hat sie schon gemalt.Menschen und Gebäude in Fürstenfelde, Natur um Fürstenfelde, Menschen und Gebäude und Maschinen in Fürstenfelde, in der Natur und in der Zeit. Und als Gemälde des Zeitvergehens: ostdeutsche Industrie und jetzt brandenburgische Industrieruinen. Ostdeutsche Landwirtschaft und jetzt brandenburgische Windräder. Unvergänglich: ostdeutsche Alleen mit ostdeutschem Straßenbelag. Feldsteine, Pflastersteine, die jedes Bild aussehen lassen, als käme es aus dem 19. Jahrhundert.
Immer mehr Türen hat Frau Kranz für den Journalisten geöffnet, mit immer mehr Leinwänden dahinter. Im zweiten oder siebten Stock ein Raum aus Gesichtern, der Journalist bleibt im Türrahmen stehen, Augen mustern ihn liebevoll, fragend, leidend, Falten, Lippen, Schläfen, Hälse, Hemdkragen, Narben. Einzig mögliches Fragepronomen ist: »Wer?« Der Journalist macht ein Fenster auf.
»Haben Sie«, fragt er, »auch mich gemalt?« Er scheint sich wirklich nicht sicher zu sein.
»Kommen Sie, kommen Sie«, sagt Frau Kranz.
Bei den Portraits sitzt niemand Portrait. Alle sind beschäftigt. Feldarbeit, Handarbeit, Schwarzarbeit. Baden, bügeln, Opa im Altersheim besuchen.
Der einzige Neonazi, den Frau Kranz gemalt hat, schläft. Das ist ja der Trick. Trotz Glatze würde ein Außenstehender jetzt nicht sofort davon ausgehen, dass da unbedingt ein Nazi schläft. Ist aber so. Kann man auf der Rückseite nachlesen: Der Neonazi schläft , so heißt das Bild. Die Fürstenfelder würden ohnehin wissen, dass da ein Neonazi schläft, weil das ist der Rico. Wir haben 1 1/2 Nazis: den Rico eben und seine Freundin Luise. Luise ist ein Halbnazi, weil sie den ganzen Scheiß nur Ricozuliebe macht.
»Ich habe mir nie vorgestellt, wie das aussieht«, sagt der Journalist und streichelt die Luft über Ricos Wange, »wenn Neonazis schlafen.«
Ganze Generationen sind unter Frau Kranz’ Pinsel gekommen. Auch Ricos Großvater, der gar kein Nazi war. Auswärtige. Tiere. Sie alle hätte man irgendwann vergessen, aber so ein Bild kann nicht vergessen. Fast siebzig Jahre eines Dorfes, eine Chronik in Öl, Aquarell und Kohle. Sparkasse im Sonnenuntergang heißt der neueste Eintrag.
Natürlich werden viele trotz der Bilder bald
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