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Vor dem Fest

Vor dem Fest

Titel: Vor dem Fest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Saša Stanišic
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blieben still, und irgendwann sagte Rosa, es gibt hundert Gründe aufzuhören, Politik ist keiner davon, also hat er weitergemacht. Schramm hat sich im Sommer entschuldigt, dreißig Jahre zu spät, aber gut.
    Das dritte Mal, als Jakob zur Welt kam. Da war er bei Rosa in Prenzlau. Hat das mit Freudengeläut nachgeholt am folgenden Tag.
    Als der Fährmann neulich beerdigt werden sollte, wollte er den langjährigen Freund mit dem Geläut in die letzte Dunkelheit geleiten, doch die Knie versagten ihm. Später ist er zum Fährhäuschen. Schlug die Fährmannglocke. Der See war ruhig. Er setzte sich in einen Kahn. Der Steg leer, das Häuschen verlassen, den Ruf der Glocke hatte niemand gehört. Das ist das eigentliche Nichts, Rosa: Dass etwas existiert und funktioniert, aber für niemanden einen Nutzen hat. Gegenstände, Geräte, ein ganzer Ort. Die Glocken. Dass die einfach nur noch sind.
    Früher, ach, früher. Früher haben die Glöckner wichtigen Ereignissen Anfang und Ende gesetzt, haben vor Gefahren gewarnt, vor Feind und den Elementen. So mancher wurde im Dienst vom Blitz erschlagen. Nachts, in einer Welt, die nicht so übervoll mit Licht war, waren die Glocken ein Leuchtturm aus Klang für alle, die durch die Finsternis irrten: Hier, wo wir schlagen, schlagen lebende Herzen. Und heute? Glocken sind die akustische Erinnerung, dass die Kirche noch steht. Ein Weckruf, den niemand bestellt hat.
    Das Schönste war es, nach dem Morgenläuten zu Rosa zu kommen, und Rosa wachte auf und zog ihn zu sich. Ihr Haar, noch weich vom Schlaf. Sie hat seinen Namen geflüstert, all die Jahre falsch betont, so schön betont.
    Sollen die Motoren übernehmen, falls Johann nicht will. Johann ist immer pünktlich, ein Schleimer vor dem Herrn! Ein Atheist. Johann wird wollen. Er weiß, was zu tun ist. Der schafft das auch allein. Johanns Hände sind schon gar nicht mehr zart.
    Die Glocken läuten.
    Der Glöckner öffnet die Augen. Er liegt vor seiner Haustür, Glöcknerzylinder auf dem Kies, Kopf auf dem Kies, Blut auf dem Kies, auf dem Kies das Kiesgeräusch von Schritten.
    »Rosa?« Er lächelt. Rosa sagt etwas, es ist nicht sein Name, falsch betont, das Läuten wird unrhythmisch, flacht ab. Johann, Junge, das hast du doch so oft geübt. Jetzt schnelle Schläge mit dem Klöppel, rhythmisch, die Schritte auf dem Kies kommen näher, die ersten Regentropfen, Rosa über ihm – »Meister?« –, Johann geht in die Hocke, fasst den Glöckner am Arm, will ihm aufhelfen. »Meister, Sie bluten!«
    »Lass. Ist gut.« Der Glöckner richtet sich langsam auf.
    Der letzte Glockenschlag mit dem langen Nachklang.
    »Johann, was geht da vor?«
    Auch wir sind verwirrt, auch wir. Wenn der Glöckner hier ist und Johann bei ihm – wer läutet dann unsere Glocken?
    Gustav schleppt sich die Treppe hinauf, schließt auf, taumelt. Johann stützt ihn, hilft ihm zum Sofa. Der Glöckner legt den Kopf in den Nacken. Schürfwunden auf den Handflächen, eine tiefere über der Schläfe.
    »Johann?«
    »Ja, Meister.«
    »Meine Zeit steht in deinen Händen.«
    »Meister?«
    »Das war die Melodie. Gut gebeiert, perfekt fast. Meine Zeit steht in deinen Händen.« Der Glöckner verzieht das Gesicht. Das Haar über der Schläfe ist blutverklebt. Er schließt die Augen. Johann reinigt dessen Wunden, verbindet sie. Alles beim Rollenspiel gelernt, da sage einer, das bringt nichts.
    »Es ist gut. Dank dir, Johann. Bitte schaust du, schaust du nach den Glocken?«
    Es regnet stärker. Auf dem Kies liegt des Glöckners Zylinder. Johann hebt ihn auf, dreht ihn in den Händen. Setzt ihn auf. Eilt hinaus in die Straßen in der Nacht.

WIR SIND BESORGT. Niemand kennt die Bibel so gut wie Kirchenglocken. Psalm 31:15. Meine Zeit steht in Deinen Händen. Errette mich von der Hand meiner Feinde und von denen, die mich verfolgen.

IM JAR 1588, IM MONAT MAIO, sind dem hiesigen Krüger Ulrich Ramelow zwey schöne Pferde gestolen, wol aber getauschet mit zwey abgezehrten Schindmähren. Es hat sodann der Stallknecht dem Krüger eine Mittheilung geboten, dieselbe ihm durch zwey Männer auffgetragen, von denen der eine von sonderbar langer Gestalt gewesen und sein Camerad wie ein Fäßlein rund: So der Krüger gutes Bier auff die Seyte schaffet und das geschanckte mit Wasser ergentzet, worauff es schmecke dünner als zwey mal gegoßenes Covent, solche Gaule sol er eigen nennen.

ANNA DEHNT SICH GEGEN DEN ZAUN. Das Holz ist seifig, rottet und splittert. Latten brechen, hängen, fehlen. Im Licht

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