Vor dem Fest
vergessen sein, es geht um das Prinzip.
Das Gesamtwerk von Frau Kranz kennen auch wir nicht. Wir kennen ihr erstes Bild. Es heißt April, vielleicht Mai . Sechs junge Frauen halten Hände am Ufer vom Tiefen See. Sie stehen in einer Reihe ungefähr dort, wo Frau Kranz jetzt ihre Staffelei aufbaut und sich räuspert, als wollte sie den See etwas fragen. Die sechs blicken auf das Wasser. Ihr Profil, Kinn, Wangenknochen, Haut: jugendliche Klarheit.
Sie könnten tanzen.
Der Betrachter befindet sich beim Fährhaus. Am linken Bildrand ist der Steg zu erkennen, rechts rahmt Schilf die Szene. An der Mauer stehen einige Häuser, einige nicht. Einige mit Dach, einige ohne. Fassaden verrußt, als hätte die Nacht ihre Schwärze nicht ablegen können.
Sie könnten ein Spiel spielen.
Der Morgennebel raubt den Farben den Atem. Dem Himmel die Höhe, die Tiefe dem See. Es ist, als stünden die Frauen vor einer verblichenen Wandtapete mit Seemotiv. Ihnen hat Frau Kranz deutliche Farben gegeben: ein rotes Halstuch, eine blaue Bluse, sonnig blondes Haar.
Sie könnten Freundinnen sein.
Wie im Nebel ist auch unsere Erinnerung an jenen Morgen. Wir haben nichts zu verbergen.
»Eine Madonna?« Der Journalist deutet auf eine Zeichnung, auf der frontal die Bäckerei zu sehen ist. »Die Fenster sind die Augen. Und hier, die Tür – der selig lächelnde Mund. Das Brot in dem Korb ist das Jesuskind.«
Vielleicht ist es der Holundersaft.
Frau Kranz zieht ihn am Ellenbogen weg von dem Bild.
Ein wenig verstehen wir ihn schon. Wie wir fragt auch er sich, was Frau Kranz’ Gemälde – wie sagen wir das jetzt? Wollen? Sie bilden die Welt selbstgenügsam ab. Erzählen nicht mehr als das Sichtbare. Mal ist die Farbwahl freier, mal sind die Proportionen ungewöhnlich, aber das hat eher damit zu tun, dass es Frau Kranz mit den Proportionen nicht so genau nimmt.
Es fällt uns schwer zu glauben, dass eine Frau, die so viel weiß und so viel nicht weiß, eine Frau, die vier politische Systeme und deren Versprechen mitbekommen und denjenigen ins Auge gesehen hat, die diese Versprechen ausgesprochen haben, denen, die sie geglaubt, und denen, die sie gebrochen haben, eine Frau, die so oft neu beginnen musste und zusehen, wie die Träume, die in jedem Neubeginn schlummern, Albträume werden, eine Frau, die das Elend und den Wandel und den Elend bringenden Wandel erlebt hat, die Vertreibung, die Kollektivierung, die Neuverteilung, den Bankrott, das Eigene, die Enteignung, das Kollektive und den kollektiven Stumpfsinn, das ungerecht Verteilte, das gerecht Verprasste, die Dummheit des einen, der Gruppe, der vielen, aller, die Bosheit, den Hass, den Neid, die Passivität, den Ehrgeiz, den Wahn – dieses miese, schöne, scheinheilige, lebensrettende, erfundene Europa –, es ist schwer zu glauben, dass eine Frau mit einem einigermaßen ausgeprägten künstlerischen Talent sich zufriedengibt mit der Sparkasse im Sonnenuntergang.
Wir sind aufgewühlt, es steht uns nicht zu, etwas zu fordern.
Es gehen mehr tot, als geboren werden.
Wer wird uns malen, wenn Frau Kranz nicht länger malt? Wer malt unser Werkzeug und unsere Hände, die es halten? Wer malt die Kochlöffel, die wir schnitzen? Wer malt das urbane Individuum, das seine ländliche Sommeridentität in einem Bungalow am Großen See verwirklicht, ein Tütchen Blumensamen von Freunden im Gepäck?
Wer malt die von Lada entrümpelten Häuser?
Wer malt die neuen Bewohner? Zum Beispiel die empfindsame Landmaschinenmogulstochter Magdalene von Blankenburg, deren Vater das barocke Schlösschen am Tiefen See saniert hat, in dem sie ihre Sommerferien verbringt und Russisch lernt, weil das die Sprache der Zukunft ist in Brandenburg, insgeheim aber auch, weil sie Isaak Babel mag und die Weichheit der russischen Lieder.
Wer malt den stummen Suzi, während er versucht, sich auf das Angeln zu konzentrieren, während Magdalene der Sonne russische Vokabeln zuflüstert?
Wer malt Annas letzten Lauf durch unsere Nacht?
ANNA HAT DAS FELD HINTER SICH GELASSEN , läuft am Töpperpuhl entlang. Das Licht der Stirnlampe belebt kurz das schwarze Wasser in der Tongrube, das unbewegt vom Regen und Wind unter welken Blättern und Algen wie dickflüssig lag.
Anna läuft an der alten Ziegelei vorbei. Jede eingeschlagene Fensterscheibe ein eigenes geometrisches Muster. Anfang der Neunziger war Sense. Annas Onkel verlor seine Anstellung und wurde nicht Alkoholiker. Gebäude und Grundstück hat jemand aus Dortmund oder
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