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Vor dem Fest

Vor dem Fest

Titel: Vor dem Fest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Saša Stanišic
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Hochedelgeborene Herr Poppo von Blankenburg führte zehn Reiter in den Kiecker, die Schurcken zu stellen. Sie entdeckten die Hüle, darinnen gleichwol nichts zu entdecken war.
    Ein mal sah das Volck die Krügerin im Gotteshauß wie sie einen doch gantz schönen Gürtel getragen, der ausgesehen wie mit Perlen gesteppet. Ein wenig ward darob gesprochen, und so trug sie ihn nicht wider.

ANNA ATMET LEICHTER. Seit sie in den Wagen eingestiegen ist, lässt der Druck in ihrer Brust nach. Der Fahrer beschleunigt nicht über fünfzig. Am Rückspiegel baumelt ein kleiner, stilisierter Fuchsschwanz sowie ein Wimpel, darauf ein Blitz wie auf dem Shirt des Fahrers. So etwas wie Deutsch-Rap aus den Boxen: »Wir sind Legenden, wir selbst, gemeinsam vorm Ende der Welt.«
    Anna deutet auf den Wimpel. »Wofür steht der?«
    »Uns mögen Blitze«, sagt der Kleine.
    »Er macht Witze«, Q schüttelt den Kopf, »das ist das Wappen von unserem Team.«
    Die machen glatt so weiter. Anna sucht nach einer Regung, die das Ganze als Spiel entlarvt, eine Wette vielleicht: Wer findet zuerst keinen Reim?
    Q drückt auf die Hupe. Mittig auf der Fahrbahn, ohne Licht, rast ihnen ein Wagen entgegen. Filmisch viele Male solchem Duell zugesehen, meistens landet einer im Graben oder an der Wand. Q bremst einfach und fährt an den Rand. Der andere gleitet von der Straße, schrammt vorbei an einer Birke und fährt weiter auf der Wiese.
    Anna: »Der ist doch völlig besoffen.«
    Q: »Wär’s nur das, könnte man noch hoffen.«
    Es ist ein weißer Golf, er fährt direkt auf einen Baum zu. Anna steigt aus. Der Golf schleift über eine Unebenheit, scheint aber kaum langsamer zu werden – Anna rennt los.
    Ein Mal wird sie nach hinten sehen, dort wird nichts und niemand stehen.
    Der Wagenhält keine fünf Meter vor dem Baum. Anna muss langsamer machen, der Boden ist rutschig und uneben, ihr Atem noch nicht souverän. Sie ist vielleicht fünfzig Meter entfernt. Einer sitzt reglos im Inneren, den Kopf auf dem Lenkrad.

II

WIR SIND VON NATUR AUS HISTORISCH INTERESSIERT. Wer an uns historisch interessiert ist, besucht das Haus der Heimat. Dort finden Ausstellungen statt, Leitz-Ordner mit potenziellen Recherchematerialien warten auf einer mit Weinrebendekorfolie dekorierten Kommode auf Rechercheure, und es gibt ein Kopiergerät, das auch Fax ist. Zum Fest hat sich ein Rentner aus Kalifornien angekündigt, der auf seinem Stammbaum herumklettern möchte. Am Telefon sagte er zu Frau Schwermuth, er hätte gehört, bei uns sei es im Spätsommer am schönsten. Die Besucher können das Telefon, den Kaffeeautomaten und die Besuchertoilette benutzen, sowie Frau Kranz’ Kohlezeichnung Bürgermeister Heinz Durden nach der Entenjagd bewundern, auf der eine fliegende Ente zu sehen ist. Frau Schwermuth hat den Rentner gefragt, wo es denn im Spätsommer nicht am schönsten sei.
    Öffnungszeiten: strikt eingehalten.
    In den Leitz-Ordnern finden sich:
    Personen und Persönlichkeiten
    Geschichte I (1740–1939) und Geschichte II (1945–1989)
    Gegenwart I (1990–fortlaufend)
    Handwerk, Kunst und Kunsthandwerk im Wandel der Zeiten
    Feste, Bräuche, Vereine
    Glaube, Kirche (Glocken), Krieg
    Sagen und Legenden (I, II, III)
    Die Leitz-Ordner interessieren uns historisch nicht.
    Über den Ordnern hängt eine Tafel aus Kork. Gepinnt an die Tafel sind Karteikarten mit lokalgeschichtlichen Meilensteinen. Der erste handelt von einem Riesen:
    Nicht der Mensch hat das Gewässer bei Fürstenfelde so geteilt, dass wir heute zwei Seen haben, ein Riese vollbrachte dies. Vor langer, langer Zeit hat er von den dalmatinischen Dinariden eine Bergkuppe abgebrochen und so weggeschleudert, dass sie hier landete und das Gewässer auf ewig entzweiriss. Ob der Riese die Bergspitze gezielt geworfen hatte, ist nicht überliefert.
    Auf den Dinariden erzählt man sich die Geschichte ebenfalls. Eine Bergkuppe habe einem Riesen die Sicht auf die Adria verstellt, also habe er sie beseitigt. Dass das Gestein bis in die Uckermark gelangt ist, bleibt unerwähnt. Darin jedenfalls sind gewaltige Fingerabdrücke zu erkennen sowie ein verwitterter Gruß auf Altkirchenslawisch, welcher heißen könnte: »Gottes Liebe ist Errettung«, oder: »Bogoljub (Gottlieb) ist ein Spargel«.
    Riesen interessieren uns historisch nicht.
    Lokalgeschichtliche Meilensteine interessieren uns nicht.
    Wer an unshistorisch interessiert ist, der spricht mit Frau Schwermuth. Frau Schwermuth weiß Sachen. Sie weiß, in welchem Leitz-Ordner

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