Vor dem Fest
zurück und sprachen lange. Danach hat die Gemeinde der Finanzierung zugestimmt.
Fakt ist: Zum Archivarium existiert kein Katalog, und eine öffentliche Nutzung findet bis heute nicht statt. Weiß das Museum für brandenburgische Geschichte von dem Archiv oder von dem »sensationellen Fund«, und wie steht es dazu? Von Zeit zu Zeit stellt Frau Schwermuth oben in der Vitrine etwas aus: einen alten Pachtvertrag, eine Eheurkunde. Statistiken: Fischfangmengen im Jahr 1744, Kriegstote in diesem und in jenem Krieg.
1514 erlegte der Stadtherr, Poppo von Blankenburg, dem Stadtschäfer die Abgabe von jährlich vier Hammeln auf, als Entgelt für die Nutzung der Weiden in Blankenburgs Besitz.
Der Stadtschäfer interessiert uns ein bisschen, aber nur deswegen, weil wir das Wort »Stadtschäfer« mögen.
Überhaupt haben es die Blankenburgs der Archivarin angetan: Hundert Jahre jünger ist eine Urkunde, die den Erwerb eines Ochsen wohl durch den Nachfahren des einstigen Stadtherren, gleichfalls Poppo von Blankenburg, belegt. Frau Schwermuth stellte die Urkunde zusammen mit einem wenig später verfassten Beschwerdebrief über den trawrig verdrieszlichen Character jenes Ochsen aus und rundete das Ganze ab mit Blankenburgs Bericht über das wirklich merkwürdige Ende des Ochsen, welcher bis an die Ostsee getrieben wurde, um dort von einer Klippe ins Meer zu stürzen, freiwillig oder unfreiwillig, darüber schweigt die Vergangenheit.
Der Ochse verwundert uns historisch ein bisschen.
Uns interessiert die Tatsache, dass beide Dokumente aus der Zeit vor 1740 stammen, vor dem Großen Brand. Sie sind also von den Flammen durch ein kleines Wunder verschont und, durch ein größeres Wunder, von uns bis vor kurzem unentdeckt geblieben.
Uns interessiert der Zahn der Zeit. Der Zahn der Zeit im Keller vom Haus der Heimat hat keinen Biss. Die Urkunde über den Stadtschäfer weist keinerlei Alterungsspuren auf, sie ist makellos. So wie alle bisher ausgestellten Dokumente.
Das ist doch interessant.
Wir glauben eher unserem Verstand, der sagt, es handelt sich um außergewöhnlich ungeschickte Fälschungen, als Frau Schwermuth, die sagt, das Gerät zur Regulierung der Luftfeuchtigkeit sei prima und tipptopp. Wie sich die Sachen bis zur Anschaffung des Geräts so gut erhalten konnten, darüber schweigt die Archivarin.
Johanna Schwermuth interessiert uns menschlich wie kriminalhistorisch ungemein.
1607, MIT ANGEHENDEM JAR, HAT DER DENCKWÜRDIGE FUND EINER WUNDERBARLICHEN MENGE VON ÄPFELN auff dem wüsten Felde am Geherschen Gehöfte zu einer Disputatio geführet, wem die Früchte, und draus folgendlich das gantze Feld, besitzlich angehörten. Vier Männer hatten Anwartung gegeben, derer drei Pachturkund und Bestandsbrief zum Nachweisen der Rechtmäßigkeit ihres Ersuches vorbracht. Der vierte, der Hochedelgeborene Poppo von Blankenburg, hatte vorzuweisen nichts, sondern er forderte die andern alleweg lauthalsig und beharrlich zu einem Faustkampff auff, umb zu entscheiden, wem das Feld zufallen solte – demjenigen nemlich, welcher als letzter nach dem Kampff stehen würde.
Dies Verhandeln ist kaum drei Tage gewesen, da hat der Schultze – ein bankeruttirter Lehrer! – unter grossen Entpörungen und Reprotestirungen den Faustkampff zum Mittel bestimmet, umb zu einem Urtheile zu kommen.
Poppo von Blankenburg schlug alle includendo den Schultzen nieder und bekam das Feld zugesprochen. Noch in derselben Nacht besof er sich fürchterlich, lief auffs Feld in der Absicht, es zu umbarmen, stürzte und beschedigte sich die Hirnschale an einem Felsen tödtlich auff.
Also ist das Feld widerumb in die Verwildung und zur Wüsteney seiner ungewissen Herkunft gekommen, in der es Jar umb Jar Wespen und Caninichen und Wildröslein herfürbringt, umb sie wider zu verschlingen.
MEINE MU WIEGT DOPPELT SO VIEL WIE MEIN PA . Sie wiegt 130 Kilo. Im Frühling kommen 30 Kilo schwere Gedanken dazu (Sorgen, Ängste, Scham und generelle Lustlosigkeit). Dann legt sich meine 160-Kilo-Mu in die Narzissen im Garten, weil im Liegen die dunklen Wolken circa hundertsechzig Zentimeter weiter weg sind. Ihre Augen sind zu, wir sollen sie in Ruhe lassen. Da kann man nichts machen, als Ehemann, als Sohn, als Narzisse nicht. Wir kriegen 160-Kilo-Mu nicht auf die Beine, wenn sie das nicht will, wir kriegen sie nicht froh, wenn sie das nicht sein kann.
Wird es am Abend kälter, decken wir sie zu. Sitzen bei ihr. Es ist eigentlich fast schön, die Familie macht was zusammen.
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