Vor dem Fest
Pa schraubt an irgendwas herum, ich bereite mich für das nächste Rollenspiel-Treffen vor (bin ein diebischer Halbelf, der gut fechten und flüchten kann). Demografisch gesehen sollten meine Hobbys Ego-Shooter und rechtes Gedankengut sein. Beides ist aber gar nicht so geil.
Manchmal leg ich mich zu Mu. Lese ihr alte Geschichten aus der Gegend vor, die mag sie gern. Am liebsten ist ihr die von Jochim, dem unsichtbaren Kesselflicker. Mu macht den Mund schief. Lächelt vielleicht. Vielleicht wäre auch sie am liebsten unsichtbar.
Ich kenne Mu im Frühling nicht anders als so. 65-Kilo-Pa und ich und auch Dr. Röhner in Prenzlau, wir machen uns nichts vor. Mu ist nicht okay. Sie weiß das selbst. Es liegt in ihrer Natur, meint sie, und gegen die Natur kann der Mensch nichts.
Die Leute tratschen über Mu, aber die Leute tratschen über jeden. Sie wird auch viel gelobt. Gelobt werden vor allem Mus Fleiß und Einsatz für das Haus der Heimat. Mu leitet die Heimat, weil Mu Ahnung hat. Vom Dorf hat Mu mehr Ahnung als alle. Die Gegend sonst interessiert sie nicht. Wenn die Touris dazu eine Frage haben, zeigt sie auf die Prospekte, die in der Heimat ausliegen, oder auf Frau Schober,die in der Heimat rumsitzt und Verwandte in der Gegend hat, und die Schobersitzt da meistens rum, weil sie alt ist und nie Besuch von den Verwandten kriegt und sich alleine zu Tode langweilen würde, das ist dann Teamwork zwischen Mu und der Schober.
Mu ist auch im Geschichtsverein. Die treffen sich zweimal die Woche, manchmal kommt Mu erst am Morgen von einer Sitzung nach Hause. Keine Ahnung, was da abgeht. Ein paar alte Leute, die einander und Geschichte mögen, sitzen zusammen und labern, so stell ich mir das vor. Irgendwann sagt einer: »Gut, heute machen wir Hexenverbrennungen. Wie geht’s uns damit? Hat jemand was beizutragen? Johanna? Ja, bitte.«
Die sind auch verantwortlich für Unser Fürstenfelde . Das ist so ein Heft voll mit Erinnerungen von alten Leuten. Darüber beschweren die alten Leute sich ja gern: dass sich niemand für ihre Erinnerungen interessiert. Mit Unser Fürstenfelde siehst du ganz klar, dass das nicht stimmt.
Mu schreibt immer was rein. Das neue Heft heißt »Feuerwehr und andere Vereine«. Da sind zwei Sachen von Mu drin, was über den Kirchenchor, für den sie leider zu schlecht war, aber Mu ist nicht nachtragend, und was über unsere Brände. Der geht so los: »Fürstenfelde ist kein schlechtes Pflaster für den Feuerbrand.« Geiler Anfang, Mu. Fürstenfelde hat eben ständig gebrannt. Für Mu: sehr tragisch. Gar nicht mal wegen den Opfern, sondern weil so viele Bücher und so was vernichtet wurden. Das, was die Glocken für mich sind, sind alte Bücher für Mu. Ihre Finger riechen manchmal wie das letzte Jahrhundert, wenn sie aus der Heimat nach Hause kommt (vergilbtes Papier).
Mu hat zum Beispiel herausgefunden, dass Fürstenfelde mal eine Stadt war, das Stadtrecht aber versoffen wurde, und jetzt ist Fürstenfelde ein Dorf. Sie kennt auch alle Märchen von hier. Besser man fragt sie nicht: Sie erzählt die nach, dass du Angst kriegst: verstellte Stimme, Körpereinsatz, so was. Die Kids lieben das oder rennen weg.
Hier ist, was ich glaube: Ich glaube, Mu lenkt sich mit der Vergangenheit von der Gegenwart ab. Also von ihrem Körper und ihren Sorgen. Auch im Frühling. Sie liegt dann da und flüstert so für sich Sachen aus den Märchen. Manchmal klingt das, als ob ihr jemand antwortet. Ich finde das gut. Ich finde alles gut, was Mu im Frühling weniger traurig macht.
Mu schluckt Vitaminpillen, bleibt Fettigem fern, fährt jeden Tag Fahrrad, aber es bleibt dabei, sie ist eine sehr dicke Person, die schwitzt und keucht. Ich sehe, wie hart es schon für sie ist, aufs Klo zu gehen. Wie krass ihr die Hitze des Sommers und des eigenen Körpers reinhaut. Sie klagt darüber, natürlich klagt sie. Ich ekel mich auch, klar. Würde aber ausflippen, wenn jemand was über Mu sagen würde.
Für das Fest richtet Mu ein antifaschistisches Radfahren aus. Die Leute wollten eine große Runde drehen: Fürstenfelde – Wrechen – Parmen – Fürstenfelde. Mu hat gesagt: »Thälmann – Berliner – Mühle – Wallscheune – Thälmann. Ich organisiere das, ich sag, wo’s langgeht.«
Mu ist eben nicht so gern weg von hier. Ich glaube, weil sie hier gut zurechtkommt. Hier ist alles immer gleich oder ändert sich sehr langsam. Der See ist am Ufer flach, draußen wartet die Tiefe. Mu wird nervös, wenn Dinge nicht so sind wie
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