Vor dem Frost
Wagen. Sie setzte sich auf eine Bank und blickte hinaus auf den Sund, die Brücke, drüben im Dunst Schweden. Dort lebten ihre beiden Eltern, die Lindas Leben in der gesamten Zeit ihres Heranwachsens in einen eigentümlichen Nebel gehüllt hatten. Am schlimmsten ist mein Vater, dachte sie. Der fähige, doch so finstere Kriminalbeamte, der lachen könnte, wenn er es sich aus einem unerfindlichen Grund nicht selbst verboten hätte. Mein Vater, dem es nicht gelingt, eine neue Frau zu finden und mit ihr zu leben, weil er noch immer Mona liebt. Baiba in Riga verstand das und versuchte, es ihm zu erklären. Aber er wollte nicht zuhören. ›Ich habe Mona vergessen‹, pflegte er zu sagen, das hat Baiba mir erzählt. Aber er hat sie nicht vergessen, er wird sie nicht vergessen, sie war die große Liebe seines Lebens. Jetzt finde ich sie, wie sie nackt in der Küche steht und Schnaps aus der Flasche trinkt. Sie wandert auch in diesem finsteren Nebel umher, und ich habe es noch immer nicht geschafft, mich davon zu befreien, obwohl ich bald dreißig bin.
Wütend trat sie in den Kies, nahm einen Stein auf und warf ihn nach einer Möwe. Das elfte Gebot, dachte sie, das wichtigste, das mir sagt:
Ich soll nicht werden wie sie.
Jenseits des Nebels gibt es eine andere Welt, mit der sie den Kontakt verloren haben. Meine Mutter stirbt daran, daß sie mit einem blutarmen Prokuristen lebt. Mein Vater daran, daß er nicht begreift, daß er die große Liebe seines Lebens schon getroffen und verloren hat, und sich danach richtet. Er wird weiter seine unsichtbaren Hunde ausführen und seine Häuser kaufen, die nicht existieren, bis er eines Tages entdeckt, daß etwas zu spät ist. Aber was ist dieses Etwas?
Sie stand auf und ging zum Wagen zurück. Mit der Hand an der Wagentür brach sie in Lachen aus. Ein paar Möwen flogen auf. So bin ich, dachte sie. Keiner lockt mich in den Nebel und führt mich in die Irre, so daß ich nie wieder herausfinde. Der Nebel kann schon ein lockendes Labyrinth sein. Aber ich werde mich nicht von ihm einfangen lassen. Sie lachte weiter, als sie zur Stadt fuhr. In Nyhavn hielt sie an, und auf einer großen Informationstafel für Touristen fand sie heraus, wo die Nedergade lag.
Es war schon dämmerig geworden, als sie ankam. Die Nedergade lag in einem verfallenen Viertel mit Reihen hoher und einförmiger Mietshäuser. Sie fühlte sich sofort unsicher und war unschlüssig, ob sie versuchen sollte, Torgeir Langaas zu finden, oder ob sie an einem anderen Tag wiederkommen sollte. Doch das Brückenticket war teuer, sie konnte es sich nicht zweimal leisten. Sie schloß den Wagen ab, stampfte mit dem Fuß auf die Straße, um sich Mut zu machen, und versuchte, in dem schlechten Licht die Namen an der Türsprechanlage zu entziffern. Die Tür ging auf, ein Mann mit einer Narbe auf der Stirn kam heraus. Er fuhr zusammen, als er sie erblickte. Bevor die Tür zuschlug, war sie hineingegangen. Im Treppenhaus hing eine andere Tafel mit den Namen der Mieter. Doch keiner hieß Langaas, keiner hieß Torgeir. Eine Frau in Lindas Alter kam mit einer Mülltüte. Sie lächelte.
»Entschuldigung«, sagte Linda. »Ich suche einen Mann namens Torgeir Langaas.«
Die Frau blieb stehen. »Wohnt der hier?«
»Das ist die Adresse, die ich bekommen habe.«
»Wie hieß er? Torgeir Langaas? Ist er Däne?«
»Nein, Norweger.«
Die Frau schüttelte den Kopf. Linda merkte, daß sie ihr wirklich helfen wollte. »Ich kenne niemanden aus Norwegen hier im Haus. Wir haben ein paar Schweden und ein paar aus anderen Ländern. Aber keinen Norweger.«
Die Haustür ging auf, ein Mann kam herein. Die Frau mit der Mülltüte fragte, ob er jemanden namens Torgeir Langaas kenne. Er schüttelte den Kopf. Er hatte die Kapuze seines Sweatshirts über den Kopf gezogen. Linda konnte sein Gesicht nicht sehen.
»Ich kann Ihnen nicht helfen. Tut mir leid. Aber versuchen Sie es doch mal bei Frau Andersen im ersten Stock. Sie kennt jeden, der hier wohnt.«
Linda bedankte sich und ging die hallende Treppe hinauf. Irgendwo schlug eine Tür zu, laute lateinamerikanische Musik drang ins Treppenhaus. Vor Frau Andersens Wohnungstür stand ein Blumentopf auf einem Schemel, eine Orchidee. Linda klingelte. Im Flur bellte es. Frau Andersen war eine der kleinsten Frauen, die Linda je gesehen hatte. Sie war krumm und gebeugt, zu ihren Füßen, die in abgetragenen Pantoffeln steckten, kläffte ein Hund, der auch zu den Kleinsten gehörte, die Linda je gesehen hatte. Linda
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