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Vor dem Frost

Vor dem Frost

Titel: Vor dem Frost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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aus einem Versteck gezogen wurden.
    Als Mona wieder in die Küche trat, hatte sie sich gekämmt und gewaschen. Sie suchte mit dem Blick die Flasche, die Linda in den Ausguß entleert hatte. Sie goß Kaffee ein. Linda fühlte plötzlich Mitleid mit ihr. Ich will nie so werden wie sie. Nie diese spionierende, nervöse, unselbständige Frau werden, die sich eigentlich nicht von Papa scheiden lassen wollte, aber ihrer selbst so wenig sicher war, daß sie gerade das tat, was sie nicht wollte.
    »Ich bin sonst nicht so«, murmelte Mona.
    »Eben habe ich gehört, daß Olof und du hier nackt herumlauft.«
    »Ich trinke nicht soviel, wie du glaubst.«
    »Ich glaube gar nichts. Früher hast du fast nie getrunken. Jetzt seh ich dich nackt mit der Flasche am Mund dastehen, am hellichten Tag.«
    »Mir geht es nicht gut.«
    »Bist du krank?«
    Mona begann zu weinen. Linda war ratlos. Wann hatte sie ihre Mutter zuletzt weinen sehen? Ein nervöses, beinah rastloses Weinen, das sie überkommen konnte, wenn ein Essen ihr nicht gelungen war oder sie etwas vergessen hatte. Sie konnte weinen, wenn sie sich mit Lindas Vater stritt. Aber dieses Weinen war etwas anderes. Linda beschloß abzuwarten. Es endete ebenso schnell, wie es begonnen hatte.
    Mona putzte sich die Nase und trank ihren Kaffee. »Es tut mir leid.«
    »Erzähl mir lieber, was los ist.« »Was sollte denn los sein?«
    »Das weiß ich doch nicht, sondern du. Aber etwas ist doch.«
    »Ich glaube, Olof hat eine andere. Er sagt, es stimme nicht. Aber eins habe ich gelernt im Leben, zu wissen, wenn jemand lügt. Das habe ich von deinem Vater gelernt.«
    Linda spürte sogleich das Bedürfnis, ihn zu verteidigen. »Ich glaube nicht, daß er mehr lügt als andere. Auf jeden Fall nicht mehr als ich.«
    »Du ahnst ja nicht, was ich dir erzählen könnte.«
    »Und du ahnst nicht, wie wenig mich das interessiert.«
    »Warum mußt du so garstig sein?«
    »Ich sage nur, was ich meine.«
    »Im Moment könnte ich eher jemanden brauchen, der ein bißchen freundlich zu mir ist.«
    Lindas Gefühle hatten die ganze Zeit gewechselt, Mitleid, Zorn, aber keins war so stark wie das, was sie jetzt empfand. Ich mag sie nicht, sagte sie zu sich selbst. Meine Mutter ist eine Frau, die um eine Liebe bittet, die ich ihr nicht geben kann. Ich muß hier weg. Sie stellte ihre Tasse neben die Spüle.
    »Willst du schon gehen?«
    »Ich muß nach Kopenhagen.«
    »Was hast du denn in Kopenhagen zu tun?«
    »Das kann ich dir so schnell nicht erklären.«
    »Ich hasse Olof für das, was er tut.«
    »Ich kann zurückkommen, wenn du nüchtern bist.«
    »Warum bist du so garstig?«
    »Ich bin nicht garstig. Ich ruf dich an.«
    »Ich kann so nicht weitermachen.«
    »Dann mußt du wohl noch einmal neu anfangen. Das hast du doch schon einmal getan.«
    »Du brauchst mir nicht zu erzählen, was ich in meinem Leben getan habe.«
    Sie begann sich wieder zu erhitzen. Linda wandte sich um und ging. Sie hörte Monas Stimme hinter sich:
Bleib noch ein bißchen.
Und dann, gerade als sie die Tür zuschlagen wollte:
Dann geh und komm nie wieder.
    Als sie sich ins Auto setzte, war sie naßgeschwitzt. Blöde Alte, dachte sie. Doch sie wußte, daß sie es, noch bevor sie die Mitte der Öresundbrücke erreicht hatte, bereuen würde. Sie hätte eine gute Tochter sein und bei ihrer Mutter bleiben und ihre Klagen anhören sollen.
    Linda suchte die Auffahrt zur Brücke, kaufte ihr Ticket und fuhr durch die Sperre. Sie fuhr langsam. Schon kam ihr schlechtes Gewissen angekrochen. Sie empfand eine plötzliche Sehnsucht danach, nicht das einzige Kind zu sein. Ein Bruder oder eine Schwester, dachte sie. Das hätte alles verändert. Jetzt bin ich ständig in der Unterzahl, ich habe zwei Eltern und bin selbst allein. Ich werde mich ihrer annehmen müssen, wenn sie nicht mehr allein zurechtkommen. Bei dem Gedanken schauderte es sie. Gleichzeitig beschloß sie, mit ihrem Vater über das Vorgefallene zu sprechen. War es früher schon vorgekommen, daß Mona zuviel getrunken hatte? Gab es ein Alkoholproblem, von dem Linda nichts wußte? Sie erreichte die dänische Seite der Brücke und schob die Gedanken an Mona beiseite. Der Entschluß, mit ihrem Vater zu sprechen, ließ das schlechte Gewissen verblassen. Es war richtig, daß sie nicht bei ihrer Mutter geblieben war. Nur wenn sie nüchtern war, hatte es Sinn, mit ihr zu sprechen. Wenn sie geblieben wäre, hätten sie sich nur weiter angeschrien.
    Linda fuhr auf einen Parkplatz und stieg aus dem

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