Vor dem Frost
passiert wäre. Dann hatte er versucht, zwischen ihnen zu vermitteln, war aber am Ende selbst ausgerastet und hatte eine Glasschale zerschlagen, die Mona und er zur Hochzeit geschenkt bekommen hatten.
Daran mußte sie denken, als sie die nackte Frau mit der Flasche in der Hand sah. Und weiter dachte sie, daß sie ihre Mutter nicht nackt gesehen hatte, seit sie klein war. Aber der Körper, den sie jetzt vor sich sah, war ganz anders. Mona war dick geworden, ihr Übergewicht bildete Wülste. Linda verzog angewidert das Gesicht, es war eine unbewußte Reaktion, doch sie war hinreichend deutlich, daß Mona sie bemerkte und aus ihrem Schock darüber, von ihrer Tochter ertappt worden zu sein, herauskam. Nachher sollte Linda denken, daß die Tatsache, daß sie beide unvorbereitet waren, das einzige war, was sie in diesem Augenblick gemeinsam hatten. Mona setzte die Flasche hart auf dem Tisch ab und riß als Schutz gegen ihre Nacktheit die Kühlschranktür auf. Linda mußte unwillkürlich kichern, als sie den Kopf ihrer Mutter über der Kühlschranktür aufragen sah.
»Was fällt dir ein, hier hereinzukommen, ohne zu klingeln?«
»Ich wollte dich überraschen.«
»Du kannst doch nicht einfach reinkommen, ohne zu klingeln.«
»Wie sollte ich sonst herausfinden, daß meine Mutter am hellichten Tage säuft?«
Mona knallte die Kühlschranktür zu. »Ich saufe nicht«, schrie sie.
»Du hattest eine Wodkaflasche am Mund.«
»In der Flasche ist Wasser. Ich kühle es vor dem Trinken.«
Beide warfen sich gleichzeitig über die Flasche, Mona, um die Wahrheit zu verbergen, Linda, um sie aufzudecken.
Linda war schneller und roch daran. »Das hier ist kein Wasser. Das ist reiner Wodka. Geh und zieh dir was an. Hast du gesehen, wie du aussiehst? Bald bist du genauso dick wie Vater. Aber du bist fett, er ist nur dick.«
Mona riß die Flasche an sich. Linda ließ es geschehen.
Sie kehrte Mona den Rücken zu. »Zieh dir was an.«
»In meinem eigenen Haus gehe ich nackt, sooft ich will.«
»Es ist nicht dein Haus. Es gehört dem Prokuristen.«
»Er heißt Olof und ist mein Mann. Das Haus gehört uns beiden.«
»Das tut es überhaupt nicht. Ihr habt Gütertrennung. Wenn ihr euch scheiden laßt, behält er das Haus.«
»Woher weißt du das?«
»Das hat Großvater erzählt.«
»Der Scheißkerl. Was wußte der schon.«
Linda drehte sich blitzschnell um und gab Mona eine Ohrfeige, die aber ihre Wange nur streifte.
»Rede nicht so über meinen Großvater.«
Mona machte einen Schritt rückwärts, schwankte, aber nicht von dem Schlag, sondern vom Alkohol, und sah sie wie rasend an. »Du bist genau wie dein Vater. Der hat mich geschlagen, und jetzt kommst du und tust das gleiche.«
»Zieh dir was über.«
Linda sah, wie ihre nackte Mama einen tiefen Schluck aus der Flasche nahm. Das kann nicht wahr sein, dachte sie. Was ich hier sehe, passiert nicht wirklich. Warum bin ich hergekommen? Warum bin ich nicht durchgefahren nach Kopenhagen?
Mona stolperte und fiel. Linda wollte ihr aufhelfen, wurde jedoch abgewiesen. Mona zog sich an einem Stuhl hoch und setzte sich.
Linda ging ins Badezimmer und holte einen Morgenrock. Doch Mona weigerte sich, ihn anzuziehen.
Linda verspürte Übelkeit. »Kannst du dir nicht was anziehen?«
»Alle Sachen fühlen sich zu eng an.«
»Dann geh ich jetzt.«
»Willst du nicht wenigstens einen Kaffee trinken?«
»Nur wenn du dir was anziehst.«
»Olof liebt es, mich nackt zu sehen. Wir sind hier im Haus immer nackt.«
Jetzt werde ich zur Mutter meiner Mutter, dachte Linda und zog ihr mit energischen Bewegungen den Morgenrock an. Mona leistete keinen Widerstand. Als sie sich nach der Flasche streckte, stellte Linda sie weg. Dann machte sie Kaffee.
Mona verfolgte ihre Bewegungen mit trüben Augen. »Wie geht es Kurt?«
»Gut.«
»Kurt ist es in seinem ganzen Leben nicht gutgegangen.«
»Im Moment geht es ihm gut. Besser als je zuvor.«
»Das muß daran liegen, daß er endlich seinen Vater los ist, der ihn gehaßt hat.«
Linda hob den Arm. Mona verstummte und hielt entschuldigend die Hände hoch.
»Du hast keine Ahnung davon, wie Vater um ihn trauert. Keine Ahnung.«
»Hat er jetzt einen Hund gekauft?«
»Nein.«
»Ist er noch mit dieser Russin zusammen?« »Baiba war aus Lettland. Das ist aus.«
Mona stand auf, schwankte, hielt sich aber aufrecht. Sie ging ins Badezimmer. Linda legte das Ohr an die Tür und horchte. Sie hörte einen Wasserhahn, der aufgedreht wurde, keine Flaschen, die
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