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Vor dem Frost

Vor dem Frost

Titel: Vor dem Frost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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dem Brückengeländer gestanden und geschwankt hatte. Als sie Maria zitternd auf dem Dach sitzen sah, wie sie krampfhaft das Gewehr umfaßt hielt, die Tränen, die auf ihrem Gesicht getrocknet waren, da war es, als sähe sie sich selbst. Hinter sich hörte sie Sundin, Ekman und den Pastor diskutieren. Alle waren ratlos.
    Linda nahm das Fernglas herunter und wandte sich zu ihnen um. »Laßt mich mit ihr reden«, sagte sie.
    Sundin schüttelte skeptisch den Kopf.
    »Ich bin selbst einmal in einer ähnlichen Situation gewesen. Außerdem hört sie vielleicht auf mich, weil ich nicht soviel älter bin als sie.«
    »Ich kann nicht zulassen, daß du das Risiko auf dich nimmst. Du bist noch nicht erfahren genug, um beurteilen zu können, was du sagen darfst und was nicht. Die Waffe ist geladen. Sie wirkt immer verzweifelter. Früher oder später schießt sie.«
    »Laß es sie versuchen.«
    Es war der alte Pastor, der das sagte. Er klang sehr bestimmt.
    »Ich finde auch«, sagte Ekman.
    Sundin schwankte. »Willst du nicht auf jeden Fall vorher zu Hause anrufen und mit deinem Vater sprechen?«
    Linda geriet außer sich vor Wut. »Er hat nichts damit zu tun. Das hier ist meine Sache, nicht seine. Nur meine. Und die von dem Mädchen da oben.«
    Sundin gab klein bei. Aber bevor sie auf den Dachboden stieg und durch die Dachluke kletterte, rüstete er sie mit einer kugelsicheren Weste und einem Helm aus. Die Weste behielt sie an, doch den Helm nahm sie ab, bevor sie den Kopf durch die Luke steckte. Das Mädchen auf dem Dach hatte gehört, wie hinter ihr die Dachpfannen klirrten. Als Linda zu ihr hinsah, hatte Maria das Gewehr auf sie gerichtet. Es fehlte nicht viel, und sie hätte den Kopf wieder zurückgezogen.
    »Komm nicht her«, schrie das Mädchen. »Ich schieße, und dann spring ich.«
    »Keine Bange«, rief Linda zurück. »Ich bleibe hier. Ich rühr mich nicht vom Fleck. Aber läßt du mich einen Augenblick was sagen?«
    »Was solltest du mir schon zu sagen haben?«
    »Warum tust du das hier?«
    »Ich will sterben.«
    »Das wollte ich auch einmal. Das ist es, was ich dir sagen wollte.«
    Das Mädchen antwortete nicht. Linda wartete. Dann erzählte sie, wie sie selbst auf dem Brückengeländer gestanden und nicht mehr weiter gewußt hatte, was die Ursache dafür gewesen war, und wer es schließlich geschafft hatte, sie wieder herunterzuholen.
    Maria hörte zu, doch ihre erste Reaktion war Ablehnung.
    »Was hat das mit mir zu tun? Meine Geschichte wird da unten auf der Straße enden. Hau ab hier. Laß mich in Ruhe.«
    Linda fragte sich verwirrt, was sie tun sollte. Sie hatte geglaubt, ihre eigene Geschichte würde reichen. Jetzt sah sie ein, daß das eine naive Fehleinschätzung war. Ich habe Anna sterben sehen, dachte sie. Aber noch wichtiger ist, daß ich Zebras Freude darüber gesehen habe, noch am Leben zu sein.
    Sie entschloß sich, weiterzureden. »Ich will dir etwas geben, wofür du leben kannst«, sagte sie.
    »Das gibt es nicht.«
    »Gib mir die Waffe und komm zu mir. Tu es mir zuliebe.«
    »Du kennst mich doch gar nicht.«
    »Nein. Aber ich habe selbst auf einer Brücke gestanden. Ich habe oft Alpträume, daß ich mich von der Brücke werfe und sterbe.«
    »Wenn man tot ist, träumt man nichts mehr. Ich will nicht leben.«
    Nach einer Weile, wieviel Zeit vergangen war, konnte Linda nicht sagen, weil die Zeit stehengeblieben war, als sie den Kopf durch die Dachluke steckte, merkte sie, daß das Mädchen ernsthaft mit ihr zu sprechen begann. Seine Stimme wurde ruhiger, weniger schrill. Es war der erste Schritt, jetzt war sie dabei, eine unsichtbare Rettungsleine um Marias Körper zu knüpfen. Aber nichts war entschieden bis zu dem Augenblick, in dem Linda keine Worte mehr hatte und anfing zu weinen.
    Da gab Maria auf.
    »Ich will, daß sie die Scheinwerfer ausmachen. Ich will meine Mutter nicht treffen. Ich will nur dich treffen. Und ich will noch nicht sofort runterkommen.«
    Linda zögerte. War das eine Falle? Hatte das Mädchen vor zu springen, wenn die Scheinwerfer ausgeschaltet worden waren? »Warum kommst du nicht jetzt mit mir?«
    »Ich will zehn Minuten für mich allein haben.«
    »Warum?«
    »Um zu fühlen, wie es ist, wenn man sich entschlossen hat zu leben.«
    Linda kletterte hinunter. Die Scheinwerfer wurden ausgeschaltet, Sundin schaute auf seine Uhr und nahm die Zeit. Plötzlich war es, als ob all die Ereignisse der dramatischen Tage von Anfang September mit gewaltiger Kraft aus dem Dunkeln auf sie

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