Vor dem Frost
brachte ihr Anliegen vor.
Frau Andersen zeigte auf ihr linkes Ohr. »Lauter. Ich höre schlecht. Sie müssen rufen.«
Linda schrie ihre Frage. »Ein Norweger mit Namen Torgeir Langaas! Gab es den im Haus?«
»Ich höre schlecht, aber mein Gedächtnis ist gut«, rief Frau Andersen zurück. »Hier gibt es keinen Torgeir Langaas.«
»Vielleicht wohnt er bei jemand anders zur Untermiete?«
»Ich weiß, wer hier wohnt. Ob sie einen Mietvertrag haben oder zur Untermiete wohnen. Ich wohne hier seit neunundvierzig Jahren, seit es das Haus gibt. Jetzt wohnen hier alle möglichen Leute. Man muß wissen, mit wem man sich umgibt.«
Sie beugte sich zu Linda vor und zischelte: »Hier im Haus werden Drogen verkauft. Und niemand tut etwas.«
Frau Andersen bestand darauf, Linda zu einer Tasse Kaffee einzuladen, der fertig in einer Thermoskanne in der engen Küche stand. Nach einer halben Stunde gelang es Linda, sich zu verabschieden. Da wußte sie alles darüber, was für einen vortrefflichen Mann Frau Andersen gehabt hatte, der jedoch leider viel zu früh verstorben war.
Linda ging die Treppe hinunter. Die lateinamerikanische Musik war verstummt. Irgendwo schrie ein Kind. Linda ging durch die Haustür und blickte sich um, bevor sie die Straße überquerte.
Sie nahm vage wahr, daß jemand aus dem Dunkel auftauchen würde. Der vermummte Mann. Er packte ihr Haar. Sie versuchte, sich loszureißen, aber der Schmerz war zu stark.
»Es gibt keinen Torgeir«, fauchte der Mann. »Kein Torgeir Langaas, nichts. Vergiß ihn.«
»Laß mich los«, schrie sie.
Er ließ ihr Haar los. Und versetzte ihr einen harten Schlag an die Schläfe. Sie sank tief in ein großes Dunkel.
Sie schwamm unter Aufbietung ihrer allerletzten Kräfte. Hinter ihr kam die gewaltige Brandungswelle immer näher und hatte sie fast eingeholt. Vor sich sah sie plötzlich Klippen, schwarze Spitzen, bereit, sie aufzuspießen. Ihre Kräfte schwanden, sie schrie auf und schlug die Augen auf. Sie spürte einen hämmernden Schmerz im Kopf und fragte sich, warum das Licht im Schlafzimmer so verändert war. Dann sah sie das Gesicht ihres Vaters, er beugte sich über sie, und sie fragte sich, ob sie verschlafen hatte. Aber was wollte sie heute tun? Sie hatte es vergessen.
Dann fiel es ihr ein. Es waren nicht die Brandungswellen, die sie eingeholt hatten, es war die Erinnerung an den Augenblick, unmittelbar bevor alles schwarz wurde. Das Treppenhaus, die Straße, der Mann, der aus dem Schatten trat, die Drohung und dann der Schlag. Sie zuckte zusammen.
Ihr Vater legte seine Hand auf ihren Arm. »Es wird schon gut. Alles wird gut.«
Sie blickte sich im Raum um. Ein Krankenhaus, gedämpftes Licht, Trennwände, zischende Frischluftzufuhr. »Jetzt weiß ich wieder«, sagte sie. »Aber wie bin ich hierhergekommen? Bin ich verletzt?«
Sie versuchte sich aufzusetzen, bewegte gleichzeitig Arme und Beine, um zu kontrollieren, ob etwas steif war. Er hinderte sie daran, hochzukommen. »Es ist besser, wenn du liegen bleibst. Du bist bewußtlos gewesen. Aber keine inneren Verletzungen, nicht einmal eine Gehirnerschütterung.«
»Wie bist du hergekommen?« fragte sie und schloß die Augen. »Erzähl mal.«
»Wenn es stimmt, was ich von meinen dänischen Kollegen und einem der Arzte hier in der Notfallambulanz im Rikshospital gehört habe, dann hattest du Glück. Ein Streifenwagen, der vorbeifuhr, sah dich und den Mann, der dich niederschlug. Es dauerte nur ein paar Minuten, bis der Krankenwagen da war. Sie fanden deinen Führerschein und deinen Ausweis von der Polizeihochschule. Nach einer halben Stunde hatten sie mich erreicht. Ich bin sofort hergefahren. Stefan ist mitgekommen.«
Linda schlug die Augen auf und sah nur ihren Vater. Sie dachte unklar, daß sie in Stefan verliebt war, obwohl sie ihn noch kaum kennengelernt hatte. Kann das stimmen? Ich wache auf, nachdem ein Idiot mich bedroht und überfallen hat, und das erste, was ich denke, ist, daß ich mich verliebt habe, aber viel zu schnell.
»Woran denkst du?«
»Wo ist Stefan?«
»Er ißt. Ich habe ihm gesagt, er sollte nach Hause fahren. Aber er wollte bleiben.«
»Ich habe Durst.«
Er gab ihr Wasser.
Linda konnte jetzt klarer denken, die Bilder von dem Augenblick, bevor alles dunkel wurde, nahmen immer deutlichere Konturen an. »Was ist mit dem, der mich überfallen hat?«
»Den haben sie gefaßt.«
Linda setzte sich so heftig im Bett auf, daß ihr Vater sie nicht mehr hindern konnte.
»Leg dich wieder
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