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Vor dem Frost

Vor dem Frost

Titel: Vor dem Frost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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Der Weg, den Jim Warren Jones bestimmt hatte, war der richtige.
    Es klang so beruhigend, dachte er. Keiner konnte wie Jim Wörtern wie
Tod, Selbstmord, Zyanid
und
Schußwaffen
das Bedrohliche und Erschreckende nehmen und ihnen statt dessen den Klang von etwas Schönem und Erstrebenswertem verleihen.
    Ein Schaudern durchfuhr ihn. Jim ist herumgegangen und hat alle Toten gesehen, dachte er. Er sieht, daß ich nicht dabei bin, und er wird die Hunde auf mich ansetzen. Der Gedanke traf ihn mit Wucht.
Alle Toten.
Ihm kamen die Tränen. Erst jetzt begriff er voll und ganz, was geschehen war. Sie waren alle tot, auch Maria und das Mädchen. Doch er wollte es nicht glauben. Maria und er hatten des Nachts flüsternd darüber gesprochen. Jim war im Begriff, wahnsinnig zu werden. Er war nicht mehr der Mann, der sie einst zu sich gelockt, ihnen Erlösung und einen Sinn des Lebens versprochen hatte, wenn sie sich der Volkstempelkirche anschlössen, die Jim gegründet hatte. Einst hatten sie es als Gnade empfunden, Jims Worte, das einzige Glück liege in der Hoffnung auf Gott, auf Christus, auf den Glauben an all das, was jenseits des irdischen Lebens wartete, das bald vorüber wäre. Maria hatte es am deutlichsten ausgesprochen: »Jims Augen haben begonnen zu flackern. Jim sieht uns nicht mehr an. Er sieht an uns vorbei, und seine Augen sind kalt, als meinte er es nicht mehr gut mit uns.«
    Vielleicht sollten wir fortgehen, flüsterten sie des Nachts. Aber jeden Morgen sagten sie sich, daß sie das einmal gewählte Leben nicht aufgeben konnten. Jim würde bald wieder wie früher sein. Er machte eine Krise durch, seine Schwäche würde bald überwunden sein. Jim war der Stärkste von ihnen allen. Ohne ihn würden sie nicht in Verhältnissen leben, die trotz allem wie ein Bild des Paradieses waren.
    Er wischte ein Insekt weg, das über sein verschwitztes Gesicht kroch. Der Dschungel war heiß, dampfend. Die Insekten kamen kriechend und krabbelnd von allen Seiten. Ein Ast drückte gegen sein Bein. Er fuhr hoch und glaubte, es sei eine Schlange. In Guyana gab es viele Giftschlangen. Allein in den letzten drei Monaten waren zwei Mitglieder der Kolonie von Schlangen gebissen worden, ihre Beine waren stark angeschwollen und hatten eine blauschwarze Färbung angenommen, bevor sie in übelriechenden Eiterbeulen aufplatzten. Eines der beiden, eine Frau aus Arkansas, war gestorben. Sie hatten sie auf dem kleinen Friedhof der Kolonie begraben, und Jim hatte eine seiner großen Predigten gehalten, genau wie früher, als er mit seiner Kirche, der Volkstempelkirche, nach San Francisco gekommen und rasch zu einem bekannten Erweckungsprediger geworden war.
    Eine Erinnerung war deutlicher als alles andere in seinem Leben. Wie er von Alkohol und Drogen und von schlechtem Gewissen wegen des kleinen Mädchens, das er verlassen hatte, so elend und kaputt gewesen war, daß er nicht mehr wollte. Damals wollte er sterben, sich einfach vor einen Lastwagen oder einen Zug werfen, und dann wäre alles vorbei, niemand würde ihn vermissen, er selbst sich am wenigsten. Auf einer seiner letzten Wanderungen durch die Stadt, als er herumging, wie um sich von den Menschen zu verabschieden, denen es sowieso egal war, ob er lebte oder starb, kam er zufällig an dem Haus der Volkstempelkirche vorbei. »Es war die Vorsehung Gottes«, sagte Jim später, »es war Gott, der dich sah und beschloß, daß du einer der Auserwählten sein solltest, einer, dem die Gnade zuteil werden sollte, durch ihn zu leben.« Was ihn dazu getrieben hatte, in dieses Haus zu gehen, das keiner Kirche glich, wußte er noch immer nicht. Nicht einmal jetzt, da alles vorbei war und er unter einem Baum lag und darauf wartete, daß Jims Hunde kämen und ihn in Stücke rissen.
    Er dachte, daß er weitermußte, seine Flucht fortsetzen mußte. Doch er konnte sein Versteck nicht verlassen. Außerdem konnte er Maria und das Mädchen nicht allein lassen. Er hatte schon einmal in seinem Leben ein Kind verlassen. Es durfte nicht wieder passieren.
    Was war eigentlich geschehen? Am Morgen waren alle wie gewöhnlich früh aufgestanden. Sie hatten sich auf dem Betplatz vor Jims Haus versammelt und gewartet. Doch die Tür war geschlossen geblieben, wie so oft in der letzten Zeit. Sie hatten ihre Gebete allein gesprochen, alle neunhundertzwölf Erwachsenen und die dreihundertzwanzig Kinder, die in der Kolonie lebten. Dann waren sie an ihre Arbeit gegangen. Er hätte nicht überlebt, wenn er nicht an diesem Tag

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