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Vor dem Frost

Vor dem Frost

Titel: Vor dem Frost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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Die Menschen, die sie hier besuchte, verwendeten viel Zeit und Sorgfalt darauf, Türen zu verschließen und Alarmanlagen zu kontrollieren. Sie ging hinein. Das Bild über dem Sofa kannte sie. Als Kind hatte sie oft davor gestanden und den braunen Bären betrachtet, der von einer Flamme zerrissen zu werden schien und langsam in Stücke zerbarst. Es war ein grausames Bild, jetzt ebenso wie damals. Sie wußte noch, daß es ins Haus gekommen war, weil ihr Vater es bei einer Lotterie gewonnen und ihrer Mutter zum Geburtstag geschenkt hatte. Aus der Küche kamen Geräusche. Linda ging ihnen nach.
    Sie wollte ihr gerade ›Hej‹ zurufen, als sie wie angewurzelt stehenblieb. Mona stand an der Spüle. Sie war nackt und hob eine Schnapsflasche an den Mund.
    Später sollte Linda das Gefühl haben, als hätte sie auf ein Bild in ihrer Erinnerung gestarrt. Es war nicht ihre Mutter, die dort nackt mit einer Schnapsflasche stand, es war nicht einmal ein Mensch, sondern ein Abguß von etwas anderem, eine Erinnerung, die zu vergegenwärtigen ihr nur gelang, indem sie tief durchatmete. Einmal hatte sie selbst das gleiche erlebt. Aber sie war nicht nackt gewesen und hatte auch keine Schnapsflasche in der Hand. Sie war vierzehn damals, es waren die schlimmsten Teenagerjahre, in denen nichts möglich und begreiflich erschien, wo aber gleichzeitig alles klar war, leicht zu durchschauen, alle Teile des Körpers vibrierten in einem ganz neuartigen Hunger. Es war während einer Periode ihres Lebens, einer der richtig kurzen, da nicht nur ihr Vater zu den sonderbarsten Zeiten zur Arbeit trabte, sondern auch ihre Mutter sich aus ihrem trostlosen Hausfrauendasein aufgerafft und eine Arbeit im Büro einer Spedition angenommen hatte. Linda war glücklich, endlich hatte sie die Möglichkeit, nach der Schule ein paar Stunden allein in der Wohnung zu verbringen oder auch Freunde mit nach Hause zu nehmen.
    Linda wurde kühner, es kam vor, daß an den Nachmittagen kleine Feste bei ihr veranstaltet wurden. Sie war plötzlich eine populäre Person geworden, weil sie mit einer elternfreien Wohnung aufwarten konnte. Sie rief täglich ihren Vater an, um zu kontrollieren, daß er nicht auf dem Nachhauseweg war, sondern bis spätabends arbeitete, was die Regel war. Mona kam immer zwischen sechs und halb sieben nach Hause. In dieser Zeit trat auch Torbjörn in ihr Leben. Ihr erster richtiger Freund, der manchmal Tomas Ledin ähnelte, manchmal so aussah, wie Linda sich Clint Eastwood als Fünfzehnjährigen vorstellte. Torbjörn Rackestad war halber Däne und außerdem zu einem Viertel Schwede und zu einem Viertel Indianer, was ihm nicht nur ein schönes Aussehen, sondern auch eine irgendwie mystische Aura verlieh.
    Zusammen mit ihm begann Linda ernstlich zu erforschen, was sich hinter dem Begriff Liebe verbarg. Zumindest näherten sie sich dem großen Augenblick, auch wenn Linda sich noch sträubte. Eines Tages lagen sie in ihrem Bett, halb ausgezogen, als die Tür aufgerissen wurde. Da stand Mona, sie hatte sich mit ihrem Chef gestritten und war früher nach Hause gekommen. Der Gedanke an den Schock verursachte Linda noch immer Schweißausbrüche. Sie hatte einen hysterischen Lachanfall bekommen. Was Torbjörn getan hatte, ahnte sie nur, weil sie es vorgezogen hatte, der Situation dadurch zu entgehen, daß sie die Augen zumachte. Aber er mußte sich in rasendem Tempo angezogen und das Weite gesucht haben.
    Mona war nicht in der Tür stehengeblieben. Sie hatte sie nur mit einem Blick angesehen, über den Linda sich nie ganz hatte klarwerden können. Er drückte alles von Verzweiflung bis zu einer merkwürdigen Art von Heiterkeit darüber aus, ihre Tochter endlich ertappt und den Beweis erbracht zu haben, daß sie genauso unberechenbar war, wie Mona immer vermutet hatte. Wie lange Linda selbst in ihrem Zimmer blieb, wußte sie nicht. Schließlich war sie jedoch ins Wohnzimmer gegangen, wo Mona auf dem Sofa saß und rauchte. Es hatte eine Szene gegeben, sie hatten sich angeschrien, Linda konnte sich noch immer an einen Ausruf erinnern, den Mona ein übers andere Mal wiederholte:
Mir ist scheißegal, was ihr tut, wenn du nur kein Kind kriegst.
Linda konnte auch ein Echo ihrer eigenen erregten und panischen Stimme hören. Aber es war nur ein Heulen, keine Worte. Sie erinnerte sich an das Gefühl, die Peinlichkeit, die Wut, die Kränkung.
    Mitten in dem wüsten Auftritt hatte ihr Vater die Wohnungstür aufgemacht. Er hatte als erstes gefürchtet, daß ein Unglück

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