Vor dem Frost
kein Kind mehr. Entschuldige, daß ich dich geweckt habe.«
Wütend drückte sie auf die Aus-Taste ihres Handys. Es passiert zu oft, dachte sie. Es macht mich rasend. Und er merkt nicht, daß er mir auf den Geist geht.
Sie winkte ein Taxi heran und fuhr hinaus nach Gärdet, wo Kristina mit ihrem Mann und ihrem achtzehnjährigen Sohn lebte, der noch zu Hause wohnte. Kristina hatte ihr im Wohnzimmer das Sofa zurechtgemacht. Das Licht einer Straßenlaterne fiel ins Zimmer. Auf einem Bücherregal stand ein Foto von ihrem Vater, ihrer Mutter und ihr selbst. Es war vor vielen Jahren aufgenommen worden. Sie war damals vierzehn, und sie erinnerte sich noch gut daran. Es war im Frühjahr gewesen, vielleicht an einem Sonntag. Sie waren nach Löderup hinausgefahren. Ihr Vater hatte den Fotoapparat bei einem Wettbewerb im Polizeipräsidium gewonnen, und als sie das Bild machen wollten, hatte ihr Großvater sich plötzlich geweigert und sich bei seinen Gemälden im Nebengebäude eingeschlossen. Ihr Vater war wütend geworden, Mona war eingeschnappt und hatte sich zurückgezogen. Linda war zu ihrem Großvater hineingegangen und hatte versucht, ihn zu überreden, herauszukommen und sich mit ihnen fotografieren zu lassen.
»Ich will nicht auf Bildern sein, auf denen Menschen, die bald auseinandergehen, dastehen und grinsen«, hatte er geantwortet.
Sie erinnerte sich noch, wie weh es getan hatte. Auch wenn sie hätte wissen müssen, wie unsensibel ihr Großvater sein konnte, hatten seine Worte sie getroffen wie eine Ohrfeige. Dann war es ihr gelungen, sich zu fassen und ihn zu fragen, ob es stimmte, ob er etwas wüßte, was ihr nicht bekannt sei.
»Nichts wird davon besser, daß du die Augen verschließt«, hatte er gesagt. »Geh jetzt raus. Du sollst mit auf das Bild. Vielleicht täusche ich mich.«
Sie saß auf dem zum Schlafen zurechtgemachten Sofa und dachte, daß ihr Großvater fast nie recht gehabt hatte. Aber diesmal hatte er gewußt, wovon er redete. Er hatte sich geweigert, mit auf dem Foto zu sein, das mit Selbstauslöser gemacht wurde. Während des folgenden Jahres, des letzten gemeinsamen Jahres ihrer Eltern, hatten die Spannungen zugenommen.
In dieser Zeit hatte sie zweimal versucht, sich das Leben zu nehmen. Das erstemal, als sie sich die Pulsadern aufgeschnitten hatte, war es der Vater gewesen, der sie gefunden hatte. Sie konnte noch immer das Bild seiner Angst vor sich sehen. Aber die Ärzte mußten ihm gesagt haben, daß zu keinem Zeitpunkt eine wirkliche Gefahr bestanden hatte. Die Eltern hatten ihr kaum Vorwürfe gemacht, und die wenigen erreichten sie nicht in Worten, sondern in Blicken und in Schweigen. Dagegen wurde bei ihren Eltern die letzte gewaltsame Eruption von Streit ausgelöst, die dazu führte, daß Mona eines Tages ihre Koffer packte und auszog.
Linda dachte später, wie seltsam es war, daß sie nicht die Verantwortung für die Scheidung ihrer Eltern auf sich genommen hatte. Aber eigentlich hatte sie ihnen einen Dienst erwiesen, sagte sie sich trotzig; sie hatte dazu beigetragen, eine Ehe zu beenden, die seit langem abgeschlossen und vorüber war. Sie hatte sich oft in Erinnerung gerufen, daß sie trotz ihres leichten Schlafs und der Hellhörigkeit der Wohnung nie von nächtlichen Geräuschen aus dem Schlafzimmer wach geworden war, die darauf schließen ließen, daß die Eltern sich liebten. Sie hatte einen Keil in die Ehe ihrer Eltern getrieben, der sie endgültig voneinander befreit hatte.
Von dem zweiten Selbstmordversuch wußte ihr Vater nichts. Das war ihr größtes Geheimnis vor ihm. Manchmal glaubte sie, er hätte doch erfahren, was geschehen war. Aber ebenso häufig war sie davon überzeugt, daß er nichts ahnte. Diesmal war es ihr ernst gewesen. Sie sah alles noch ganz klar vor sich.
Sie war sechzehn und zu ihrer Mutter nach Malmö gefahren. Es war eine Zeit großer Niederlagen, so großer Niederlagen, wie man sie nur als Teenager erlebt. Sie mochte sich selbst nicht leiden, schrak vor ihrem Spiegelbild zurück, das sie gleichzeitig liebte, nichts an ihrem Körper war, wie es sein sollte. Die Depression kam schleichend, wie eine Krankheit, deren Symptome zunächst vage und nicht der Beachtung wert waren. Aber auf einmal wir es zu spät, und sie wurde von einer unbezwingbaren Depression befallen, als ihre Mutter für all ihre Qualen nur Unverständnis aufbrachte. Was sie am meisten erschütterte, war Monas Nein, als sie sie gebeten hatte, nach Malmö ziehen zu dürfen. Sie konnte sich
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