Vor dem Frost
geworfen, zweimal hat sie sie im letzten Moment wieder aus den Flammen gefischt. Ihr Selbstvertrauen ist ungefähr genauso tief abgesackt wie bei einem Menschen, der nur noch einen Zahn im Mund hat.«
»Wie klingt ihre Musik?«
»Ich habe kaum eine Ahnung. Dann und wann hat sie versucht, es mir zu erklären, indem sie etwas vorgesummt hat.
In den seltenen Augenblicken, in denen sie glaubte, das, was sie schreibe, habe irgendeinen Wert. Aber ich erkenne nie eine Melodie. Gibt es Musik ohne Melodie? Ihre Musik hört sich an wie Schreie, als ob jemand nach dir sticht oder dich schlägt. Es will mir überhaupt nicht in den Kopf, daß jemand sich so etwas anhören will. Gleichzeitig bewundere ich sie, weil sie nicht aufgibt. Zweimal habe ich versucht, ihr zu raten, eine andere Richtung einzuschlagen, etwas ganz anderes zu machen. Sie ist doch noch keine Fünfzig. Beide Male ist sie auf mich losgegangen, hat gekratzt und gezerrt und gespuckt. Da war ich überzeugt, daß sie drauf und dran ist, verrückt zu werden.«
Anna unterbrach sich, als fürchtete sie, zuviel gesagt zu haben. Linda wartete auf die Fortsetzung. Ihr fiel ein, daß sie schon einmal so gesessen hatten, als sie entdeckten, daß sie beide in denselben Jungen verliebt waren. Keine hatte etwas sagen wollen. Sie hatten diesen stummen und atemlosen Schrecken geteilt, daß ihre Freundschaft auf dem Spiel stand. Damals hatte ihr Schweigen den ganzen Abend und bis tief in die Nacht gedauert. Es war in der Mariagata gewesen. Lindas Mutter war schon mit ihren Sachen ausgezogen, und ihr Vater war in den Wäldern bei Kadesjö gewesen auf der Suche nach einem Psychopathen, der einen Taxifahrer überfallen hatte. Linda wußte sogar noch, daß Anna an jenem Abend und in der Nacht schwach nach Vanille geduftet hatte. Gab es Parfüm mit Vanilleduft? Oder Seife? Sie hatte damals nicht gefragt und wollte es auch jetzt nicht tun.
Anna richtete sich auf und kam aus dem Halbschatten heraus. »Hast du jemals das Gefühl gehabt, daß du drauf und dran warst, den Verstand zu verlieren?«
»Jeden Tag.«
Anna warf irritiert den Kopf in den Nacken. »Ich mache keine Witze. Ich meine es ernst.«
Linda bereute sofort.
»Es ist vorgekommen. Du weißt, wann.«
»Du hast dir die Pulsadern aufgeschnitten. Und auf einem Brückengeländer gestanden. Aber das ist Verzweiflung. Das ist nicht dasselbe. Alle Menschen sind irgendwann einmal verzweifelt. Es ist wie ein Initiationsritus für das Erwachsenenleben. Wenn man nicht gegen das Meer oder den Mond oder seine Eltern anschreit, hat man keine Chance, erwachsen zu werden. Prinz und Prinzessin Sorgenfrei sind verfluchte Geschöpfe. Denen hat man Betäubungsspritzen in die Seele verpaßt. Wir Lebenden müssen wissen, was Trauer ist.«
Linda beneidete Anna wegen ihrer Fähigkeit, sich zu artikulieren. Sprache und Gedanke, dachte sie. Ich müßte mich erst hinsetzen und es zu Papier bringen, wenn ich versuchen wollte, so schön zu reden wie sie.
»Dann habe ich nie Angst gehabt, ich könnte verrückt werden«, antwortete sie.
Anna stand auf, ging zum Fenster und kehrte nach einer Weile zurück. Man ähnelt seinen Eltern, dachte Linda. Genau das habe ich ihre Mutter tun sehen, ständig die gleiche Bewegung, um ihre Unruhe unter Kontrolle zu behalten. Aufstehen, zum Fenster gehen und zurückkommen. Mein Vater verschränkt die Arme fest vor der Brust, und Mona reibt sich die Nase. Und was hat meine Großmutter getan? Sie starb, als ich so klein war, daß ich mich nicht an sie erinnern kann. Und Großvater? Der pfiff auf alles und malte einfach weiter seine gräßlichen Bilder.
»Ich glaube, ich habe gestern auf der Straße in Malmö meinen Vater gesehen«, sagte Anna plötzlich.
Linda runzelte die Stirn und wartete auf eine Fortsetzung, die aber ausblieb. »Du glaubst, du hättest deinen Vater in Malmö auf der Straße gesehen?«
»Ja.«
Linda überlegte. »Aber du hast ihn doch nie gesehen. Nein, das ist falsch. Du hast ihn gesehen, aber du warst so klein, als er wegging, daß du dich nicht an ihn erinnerst.«
»Ich habe die Fotos.«
Linda rechnete im Kopf nach. »Es ist fünfundzwanzig Jahre her, daß er verschwunden ist.«
»Vierundzwanzig.«
»Vierundzwanzig. Wie sieht ein Mensch nach vierundzwanzig Jahren aus? Das weiß man nicht. Man weiß nur, daß man anders aussieht.«
»Trotzdem war er es. Meine Mutter hat mir von seinem Blick erzählt. Ich bin sicher, daß er es war. Er muß es gewesen sein.«
»Ich wußte nicht
Weitere Kostenlose Bücher