Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vor dem Frost

Vor dem Frost

Titel: Vor dem Frost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
Vom Netzwerk:
wirklich alles geschehen kann. Unter anderem, daß jemand anruft und eine Meldung über brennende Schwäne macht. Und daß die Information sich als zutreffend erweist.«
    Linda stellte keine weiteren Fragen. Sie bogen auf einen Parkplatz ein und gingen den Hügel hinab bis zum See. Linda ging unmittelbar hinter ihrem Vater und dachte, daß sie bereits eine Uniform trug, auch wenn sie noch unsichtbar war.
    Sie gingen um den See herum, ohne eine Spur von toten Schwänen zu finden. Keiner von beiden bemerkte, daß jemand sie durch die Linse eines Fernglases auf ihrem Spaziergang verfolgte.
    Ein paar Tage später, an einem klaren und ruhigen Morgen, flog Linda nach Stockholm. Zebra hatte ihr geholfen, ein Ballkleid zu nähen. Es war hellblau und vorn und am Rücken tief ausgeschnitten. Ihr Jahrgang hatte einen alten Festsaal an der Hornsgata gemietet. Alle waren gekommen, sogar der verlorene Sohn des Jahrgangs. Von den achtundsechzig Schülern, die mit Linda zusammen angefangen hatten, mußte einer die Ausbildung abbrechen, nachdem sich gezeigt hatte, daß er ein gravierendes Alkoholproblem hatte, das er weder verheimlichen noch in den Griff bekommen konnte. Niemand wußte, wer bei der Schulleitung gepetzt hatte. Wie in einer stillschweigenden Übereinkunft hatten sie entschieden, daß sie alle gleichermaßen verantwortlich waren. Linda stellte ihn sich als ihr Gespenst vor. Er würde immer da draußen im Herbstdunkel sein, mit einer bohrenden Sehnsucht danach, in Gnaden wieder in die Gemeinschaft aufgenommen zu werden.
    An diesem Abend, als sie zum letztenmal mit ihren Lehrern zusammenkamen, trank Linda viel zuviel Wein. Es kam zuweilen vor, daß sie beschwipst war, doch sie meinte immer, zu wissen, wann sie genug hatte. An diesem Abend trank sie jedoch zuviel. Vielleicht weil ihre Ungeduld ihr stärker zu schaffen machte, als sie so viele ehemalige Mitschüler traf, die bereits angefangen hatten zu arbeiten. Ihr bester Freund aus der Hochschulzeit, Mattias Olsson, hatte sich entschieden, nicht nach Sundsvall zurückzugehen, wo er herkam, und arbeitete jetzt bei der Ordnungspolizei in Norrköping. Er hatte sich schon ausgezeichnet, als er einen unter dem Einfluß anaboler Steroide amoklaufenden Bodybuilder niedergerungen hatte. Linda gehörte zu den wenigen, die noch warteten.
    Sie tanzten, Zebras Ballkleid erhielt viel Lob, einige hielten Reden, andere sangen ein in Maßen spöttisches Lied auf das Lehrerkollegium, und es wäre alles in allem ein gelungener Abend gewesen, wenn nicht einer der Köche einen Fernseher in der Küche gehabt hätte.
    Die Spätnachrichten brachten als Hauptthema die niederschmetternde Neuigkeit, daß ein Polizist in der Nähe von Enköping auf offener Straße niedergeschossen worden war. Die Nachricht sprach sich im Nu unter den tanzenden und trinkenden Polizeiaspiranten und ihren Lehrern herum. Die Musik wurde abgestellt, der Fernseher aus der Küche hereingetragen, und es war, dachte Linda nachher, als hätten sie alle einen Tritt in den Bauch bekommen. Plötzlich war das Fest geplatzt, das Licht wurde fahl, sie saßen da in ihren Ballkleidern und Anzügen und sahen die Bilder eines Polizisten, der niedergemäht worden war wie bei einer kaltblütigen Hinrichtung, als er zusammen mit einem Kollegen versuchte, einen gestohlenen Wagen anzuhalten. Zwei Männer waren herausgesprungen und hatten aus Maschinenpistolen gefeuert. Es waren keine Warnschüsse abgegeben worden, sie hatten in eindeutiger Tötungsabsicht gehandelt. Das Fest war vorbei, die Wirklichkeit hämmerte hart an die Tür.
    Spät in der Nacht, als sie auseinandergegangen waren und Linda auf dem Weg zu ihrer Tante Kristina war, bei der sie übernachtete, blieb sie am Mariatorg stehen und rief ihren Vater an. Es war drei Uhr, und sie hörte seine verschlafene Stimme. Dennoch wurde sie ärgerlich. Er sollte nicht schlafen, wenn ein paar Stunden zuvor ein Kollege ermordet worden war. Das sagte sie auch.
    »Nichts wird besser davon, daß ich nicht schlafe. Wo bist du?«
    »Auf dem Weg zu Kristina.«
    »Habt ihr bis jetzt gefeiert? Wie spät ist es eigentlich?«
    »Drei. Es war zu Ende, als wir hörten, was passiert war.«
    Er atmete schwer, als habe er sich immer noch nicht entschieden, wach zu werden.
    »Was sind das für Geräusche im Hintergrund?«
    »Nachtverkehr. Ich warte auf ein Taxi.«
    »Wer ist bei dir?«
    »Niemand.«
    »Du kannst doch nicht mitten in der Nacht allein durch Stockholm laufen!«
    »Ich komm schon klar. Ich bin

Weitere Kostenlose Bücher