Vor dem Frost
über das Zusammenleben mit ihrem Vater nicht beklagen, es war die Kleinstadt, aus der sie fortwollte. Aber Mona blieb hart.
Im Zorn hatte Linda die Wohnung verlassen. Es war im zeitigen Frühjahr, noch Schnee auf den Beeten und an den Straßenrändern, ein beißender Wind kam vom Sund herüber, und sie war durch die Straßen gelaufen, die endlose Regementsgata entlang zur Ausfahrt Richtung Ystad. Irgendwo hatte sie sich verlaufen. Sie hatte die gleiche Angewohnheit wie ihr Vater, beim Gehen auf den Boden zu starren. Wie er war sie bei verschiedenen Gelegenheiten gegen Laternenpfähle oder parkende Autos gelaufen. Sie war zu einer Brücke über eine Autobahn gekommen. Ohne wirklich zu wissen, warum, war sie auf das Brückengeländer geklettert, wo sie anfing, im Wind zu schwanken. Sie schaute hinab auf die heranrasenden Autos und die gleißenden Lichter, die das Dunkel zerschnitten. Wie lange sie so stand, wußte sie nicht. Es war wie eine letzte große Vorbereitung, sie hatte nicht einmal Angst oder Selbstmitleid verspürt. Sie hatte nur darauf gewartet, daß die schwere Müdigkeit oder die Kälte sie dazu brachten, den Schritt hinaus in die Leere zu tun.
Plötzlich hatte jemand hinter ihr gestanden, oder vielleicht neben ihr, und behutsam zu ihr gesprochen. Es war eine Frau, eine junge Frau mit kindlichem Aussehen, vielleicht nicht viel älter als sie selbst. Aber sie trug eine Uniform, sie war Polizistin. Weiter hinten auf der Brücke standen zwei Polizeiwagen mit kreisendem Blaulicht. Aber nur diese Polizistin mit dem kindlichen Gesicht hatte sich genähert. Im Hintergrund hatte Linda die Schatten anderer Menschen wahrgenommen, die warteten, die die Verantwortung dafür, diese Idiotin von dem Brückengeländer herunterzuholen, einer jungen Frau übertragen hatten, die nur wenig älter war als sie selbst. Sie hatte mit ihr gesprochen, hatte gesagt, daß sie Annika heiße und nur wolle, daß Linda da herunterkäme, ein Sprung ins Leere sei keine Lösung, egal, welches Problem sie habe. Linda hatte widersprochen, sie hatte das Gefühl, das, was sie tat, verteidigen zu müssen. Wie konnte Annika wissen, wovon sie sich befreien wollte? Aber Annika gab nicht nach, sie wirkte vollkommen ruhig, als sei sie mit einer unerschöpflichen Geduld ausgestattet. Als Linda schließlich vom Geländer herunterkletterte und zu weinen anfing, aus einer Enttäuschung heraus, die natürlich zum Teil Erleichterung war, hatte auch Annika geweint. Sie hatten dagestanden und sich umarmt. Linda bat darum, daß ihr Vater, der auch Polizist sei, nichts erführe. Und ihre Mutter auch nicht, aber vor allem nicht ihr Vater. Annika versprach es ihr, und das Versprechen hatte sie gehalten. Viele Male hatte Linda sich vorgenommen, sie anzurufen. Sie hatte die Hand am Telefon gehabt, um im Polizeipräsidium in Malmö anzurufen. Aber jedesmal hatte sie die Hand wieder zurückgezogen.
Sie stellte das Foto zurück aufs Bücherregal, dachte an den Polizisten, der ermordet worden war, und legte sich hin, um zu schlafen. Von der Straße waren ein paar lärmende Personen zu hören, die sich stritten. Sie dachte, daß sie bald mitten zwischen ihnen stehen würde und zu schlichten versuchen müßte. Aber war es wirklich das, was sie wollte? Die Wirklichkeit in Gestalt des ermordeten Polizisten auf einer Straße in Enköping gab ihr zu denken.
In dieser Nacht fand sie keine Ruhe. Am Morgen wurde sie von Kristina geweckt, die jedoch in Eile war, um pünktlich zur Arbeit zu kommen. Kristina war in jeder Hinsicht das Gegenteil ihres Bruders. Sie war groß und schlank, hatte ein spitzes Gesicht und sprach mit einer piepsigen, schrillen Stimme, über die Lindas Vater sich bei seiner Tochter oft lustig gemacht hatte. Aber Linda mochte ihre Tante. Sie hatte etwas Einfaches, nichts brauchte kompliziert zu sein. Auch darin war sie das Gegenteil ihres Bruders, der überall Probleme sah, unlösbare Probleme, was das Privatleben anging, Probleme, auf die er sich wie ein wütender Bär stürzte, was die Arbeit betraf.
Um kurz vor neun fuhr Linda nach Arlanda hinaus, um zu versuchen, eine Maschine nach Malmö zu bekommen. Die Zeitungsaushänger posaunten den Polizistenmord heraus. Sie bekam einen Platz in einer Maschine um zwölf Uhr und rief ihren Vater an, der sie in Sturup abholte.
»War es schön?« fragte er.
»Was glaubst du?«
»Ich weiß nicht. Ich war ja nicht da.«
»Darüber haben wir heute nacht gesprochen, falls du dich erinnerst.«
»Natürlich
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